Mädchenschulbildung

Anette Kanngießer

Geschichte der Mädchenschulbildung

Im folgenden möchte ich einen knappen Überblick über die Geschichte der schulischen Mädchenerziehung geben. Dabei werde ich immer wieder Bezug auf die Osnabrücker höhere Mädchenschule nehmen, denn deren Geschichte in die allgemeine Schulgeschichte einordnen und dadurch besser verstehen zu können ist die eigentliche Funktion dieses Abschnittes. Ausgezeichnete allgemeine Darstellungen über die Geschichte der Mädchenerziehung liegen inzwischen vor; wer sich darüber genauer informieren möchte, sei auf das Literaturverzeichnis am Ende dieser Jubiläumsschrift verwiesen.

Mädchenschulen hat es vereinzelt schon während des Mittelalters gegeben, dann vermehrt in der Reformationszeit offenbar auch in unserer Gegend. Es gibt z.B. eine Quelle, die auf koedukativen Unterricht in Bramsche 1550 verweist, andere Quellen belegen die Gründung einer Mädchenschule in Bad Iburg 1659. 1 Vermutlich handelte es sich um Unterricht auf der Volksschulebene. Im 18. Jahrhundert gab es etliche private Institute und Pensionate für Mädchen, wie sie z.B. die jungen adeligen Mädchen in Goethes „Wahlverwandtschaften“ besuchen. In den ländlichen Gegenden waren ansonsten bei denen, die es sich leisten konnten, Privatlehrer gang und gäbe.

„Höhere“ Mädchenschulen sind vor allem Produkte des 19. Jahrhunderts; von heute aus gesehen ist es fast erstaunlich, daß sie sich bis etwa 1970 relativ unangefochten gehalten haben.

Geschichte der höheren Mädchenschulen bis 1908

Der eigentliche Schub für höhere Mädchenschulen erfolgte im 19. Jahrhundert: In der Mitte dieses Jahrhunderts gab es wohl in allen deutschen Staaten, bzw. in deren größeren Städten eigene Schulen für Mädchen der gehobenen Sozialschichten, die meist 2 „Töchterschulen“, „höhere Töchterschulen“, „Bürgermädchenschulen“ oder ähnlich genannt wurden. (Erst nach 1908 setzte sich in Deutschland der Begriff „Lyzeum“ für die Mädchenoberschulen allgemein durch. Das Wort ist abgeleitet vom griechischen „lykaion“, einem dem Apoll (Lykaios) geweihten Heiligtum in Athen mit einem Gymnasium.) Die Hauptgründe für die Vermehrung der höheren Mädchenschulen im 19. Jahrhundert sind zum einen in der sich allmählich im ganzen Deutschen Reich durchsetzenden allgemeinen Schulpflicht zu sehen, die auch für Mädchen galt. Sozial „höher“ gestellte Bürger wollten ihre Töchter nicht gern mit den Kindern der Dienstboten und Kleinbürger in der Volksschule sehen, und so entstanden private oder – wie 1848 in Osnabrück – kommunal oder kirchlich gestützte, andernorts sogar staatlich finanzierte Mädchenschulen. (Die Osnabrücker Mädchenschule mußte sich durch die Schulgelder finanzieren.) Ein weiterer zentraler Punkt für die rasche Zunahme der höheren Mädchenschulen dürfte in der demographischen Entwicklung, dem enormen Verstädterungsprozeß und dem damit verbundenen sozialen Wandel zu sehen sein.

Die Bevölkerung wurde immer zahlreicher; die bürgerlichen Männer waren zunehmend nicht in der Lage, eine Familie und einen standesgemäßen Haushalt zu gründen, so daß ein Bedarf für Mädchenausbildung mit der Perspektive einer möglichen Berufstätigkeit entstand. Allerdings dauerte es noch ein halbes Jahrhundert, bis dieser Zusammenhang klar erkannt wurde und sich in entsprechenden Forderungen niederschlug.

In Osnabrück scheinen zusätzlich konfessionelle Gründe eine Rolle bei der Gründung der höheren Töchterschule gespielt zu haben: Während die privaten Anstalten der Witwe Bindseil und Mlle. Cécile Vezin die höheren Töchter beider Konfessionen in Osnabrück offenbar noch vereinen konnten, 2 vielleicht auch weil das französische Prestige den konfessionellen Aspekt überlagerte, begann 1848 die konfessionelle Zweiteilung bei den höheren Mädchenschulen, die bei den Knabengymnasien schon seit der Gründung des Ratsgymnasiums (1595) bestand.

„Alle Bildung zu gelehrten Damen, auch schon die Bewirkung einer zu starken Neigung zur Beschäftigung mit Wissenschaften, muß ernsthaft vermieden werden.“ Konsistorialrat Zarenner, 1893

Als nämlich 1848 Mlle Vezin die Mädchenschule aus Altersgründen aufgab, ergriff der Weihbischof Lüpke die Initiative und gründete im selben Gebäude eine katholische höhere Mädchenschule. Dadurch geriet der (evangelische) Magistrat unter Zugzwang. Es waren die Honoratioren der Stadt, die als Mitglieder der Schulkommission die Gründung einer städtischen Mädchenschule beschlossen.3

Diese städtische höhere Mädchenschule war faktisch vor allem eine evangelische Schule, auch wenn sie 1874 explizit zu einer simultanen (d.h. den verschiedenen Konfessionen offenstehenden) Anstalt erklärt wurde. 4 Die höhere Mädchenschulbildung krankte lange Zeit daran, daß sie kein klares Ziel hatte. Während in den Knabenschulen im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend Abschlüsse standardisiert wurden und so vor allem mit dem Abitur (das in Preußen seit 1812 eingeführt war) die Voraussetzung für ein akademisches Studium bzw. Berufslaufbahnen geschaffen wurde, blieb das Ziel einer höheren Mädchenschulbildung verschwommen, da es selbstverständlich schien, daß eine Beamtenlaufbahn oder ein Studium für eine Frau nicht in Frage kamen. Akademische Prüfungen, die einzelne Frauen nach privater Vorbereitung an verschiedenen Universitäten im 18. Jahrhundert abgelegt hatten, wurden durch die zunehmende staatliche Normierung dem weiblichen Geschlecht verwehrt.

Maedchenbildung 3 1Die Argumentationskette für diese Ausschließung zeigt beispielhaft das folgende Zitat: „Nur wir Männer leben im Staat. (...) Alles was ein Frauenzimmer dem Staat für Dienste leisten kann, ist, daß es seinen Gatten zu seinen Geschäften aufheitert, gesunde Kinder gebieret, und sie zur Rechtschaffenheit und zu nützlichen Kenntnissen erziehet.“ 5 Und der Magdeburger Konsistorialrat Zarenner formuliert 1893: „Die Bestimmung der höheren Töchterschule ist die zweckmäßige Bildung der Töchter höherer Stände (...) Alle Bildung zu gelehrten Damen, auch schon die Bewirkung einer zu starken Neigung zur Beschäftigung mit Wissenschaften, muß ernsthaft vermieden werden.“ 6 Andererseits werden auch ganz andere Vorwürfe erkennbar, wenn der Direktor der Osnabrücker höheren Töchterschule die Mädchenbildung verteidigt und dabei ausführt: „Man hat lange Zeit den Töchterschulen den Vorwurf gemacht, dass sie im wesentlichen ihren Zöglingen nur eine Scheinund Halbbildung geben, sozusagen einen geistigen Flitterstaat, mehr geeignet, gesellschaftliche Vorzüge, als wahre Bildung und einfache häusliche Tugenden zu pflegen.“ 7 So stand die Mädchenbildung in einem schwierigen Kreis unterschiedlichster Ansprüche an sie. Einig war man sich aber immer darin, daß die Mädchenschulen „ihren Blick auf die Familie, das Leben und Wirken im häuslichen Kreis“ zu richten habe. 8 Im Jahresbericht von 1876 läßt sich Direktor Swart noch genauer über die Erziehung der Mädchen aus. „Der höchste Beruf der Frau, Gefährtin und Gehülfin des Mannes, Hüterin des Hauses und der Familie zu sein und die Pflege und Erziehung der Kinder in die Hand zu nehmen, fordert von ihr die Erfüllung schwerer und hoher Pflichten.(...) Dienen lerne beizeiten das Weib nach seiner Bestimmung (Goethe, Hermann und Dorothea, VII, 114).“ Swart verweist ausführlich auf den Wert 3der Erziehung zu Gehorsam auch bei kleinen Mädchen; „die Kleidung soll einfach sein, das Mädchen zu Hause die Hände nie in den Schoos legen...“, Tugenden, wie sie schon ein Jahrhundert zuvor Justus Möser in Osnabrück für die ideale Hausfrau gefordert hatte.

Swart zitiert auch den Schulspruch „Die Furcht des Herren ist der Weisheit Anfang“ und fährt fort „wer bedürfte solches religiösen Grundes und Haltes dringender als das Mädchen? Haben doch die schönsten Tugenden, die es zur Erfüllung seiner hohen Lebensaufgabe braucht, Ergebung, Selbstverleugnung, Demuth, ihre unmittelbare Quelle eben in der Religion.“ 9 Zentral war bei den Unterrichtsfächern in den Mädchenschulen deshalb der Religionsunterricht, daneben der Literaturunterricht und der Handarbeitsunterricht (4 Wochenstd). Die höhere Mädchenschule lehrte Französisch als erste Fremdsprache, Englisch als zweite.

Daß es überhaupt Schulbildung, verstanden nicht nur als Bildung von Charakter und Gemüt, sondern als Vermittlung von Wissen und Können, gab, rechtfertigt Swart damit, „daß die Frau dann den geistigen Interessen des Mannes nicht fremd und gleichgültig gegenüber stehe.“ 10 4 Mit welchen Schwierigkeiten die Osnabrücker Mädchenschule in der Anfangszeit noch zu kämpfen hatte, um überhaupt intellektuelle Leistung von den Mädchen zu fordern, beschreibt schon Gisela Wagner anschaulich und vergnüglich in ihrer lesenswerten Gedenkschrift zum 100jährigen Bestehen der Mädchenschule 1948. 11 In der Festschrift von 1898 zum 50jährigen Bestehen der Osnabrücker Mädchenschule läßt sich auch der amtierende Direktor Heuermann ausführlich über Mädchenerziehung aus. Auch er verweist auf Goethe, diesmal ist es „Wilhelm Meister“, in dem Goethe in dichterischer Form gezeigt habe, was „edle Frauenbildung“ ist. Die Figur der Makarie wird als der Inbegriff höchster weiblicher Bildung gefeiert, denn „neben die religiöse Innerlichkeit der schönen Seele und die praktische Tüchtigkeit der Hausfrau stellt sich hier ein weiblicher Charakter, dessen wesentlicher Zug thätige Sorge für andere ist“. 12 „Jede Bildung aber, auch die höchste, muß sich in entsagender, d.h. opferfreudiger Thätigkeit für andere, für die Menschheit, als echt erweisen. Sie wird das nur dann vermögen, wenn sie im tiefsten Grunde auf Frömmigkeit beruht.“ 13 Heuermann prophezeit sogar, auch das zwanzigste Jahrhundert „wird nichts Edleres und Höheres ersinnen als jenes von Goethe gezeichnete Bildungsideal“. 14 Goethe und Schiller interpretiert als Verkünder ewiger, immer geltender Werte waren überhaupt trefflich geeignet als Dressurmittel zur Herausbildung eines weiblichen Sozialcharakters, der als natürlich oder als naturgegeben angesehen wurde.

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Die Osnabrücker Höhere Töchterschule ist mit den von ihren Direktoren beschriebenen Bildungsidealen sicher ein repräsentatives Beispiel für die allgemeine deutsche Tradition von Mädchenerziehung. Zum Teil ähneln die Ausführungen bis in den Wortlaut hinein den Äußerungen, die 1872 in Weimar auf deraus: Lehrplan der städtischen höheren Mädchenschule zu Osnabrück, Ostern 1896 ersten Tagung der Mädchenschullehrer und -leiter fielen.

Die Diskussionen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderte von engagierten Frauenrechtlerinnen vorangetrieben wurden, haben sich in der Osnabrücker Töchterschule zumindest nicht in den bildungspolitischen Festtagsreden niedergeschlagen. Hier wird nichts erkennbar von der großen Bewegung der Frauenemanzipation.

Diese kämpfte von verschiedenen Auffassungen über das „Wesen“ der Frau ausgehend und setzte dementsprechend auch unterschiedliche Schwerpunkte. Am weitestgehenden waren die Forderungen des sogenannten radikalen Flügels, der eine allgemeine Gleichberechtigung der Frau im Sinne der heute gültigen Menschenrechte forderte und dabei z.B. auch generelle Koedukation in den Schulen verlangte. Einen bescheidenen Gegenpol bildete die Bewegung, die Schulen zur Vorbereitung auf die zukünftigen Aufgaben der Mutter und Hausfrau forderte. Eine dritte Strömung forderte die Anhebung des Niveaus der höheren Mädchenschulen. Diese Bewegung ging vor allem von den Direktoren dieser Schulen selbst aus, die damit auch die Forderung nach besserer Bezahlung und Ausbildung der Lehrkräfte verbanden. Eine vierte Bewegung, getragen von relativ breiten bürgerlich-gemäßigten Kräften, setzte sehr stark auf die Berufsausbildung als Voraussetzung für die Versorgung unverheirateter Mädchen.

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So wird z. B. in einer Petition von 1890 argumentiert: „So lange der Regel nach das Weib zur Ehe gelangt oder im Kreise der nächsten Verwandten eine Heimstätte findet, braucht in Erziehung und Unterricht der Mädchen(...) auf die Ergreifung eines selbständigen Berufs nicht Rücksicht genommen zu werden. Dies findet statt bei den arbeitenden Klassen und der Geldund höheren Geburtsaristokratie, nicht aber bei den breiten Schichten des sogenannten gebildeten Mittelstandes, bei den Trägern der 5auf Universitätsstudien beruhenden Berufe, den Beamten, den Offizieren, den Künstlern und den gebildeten Kreisen des Handels und der Industrie. In diesen Kreisen gelangt eine große Zahl von Mädchen nicht zur Ehe, deren Zukunft zu sichern es nur eine Möglichkeit gibt, die Ausbildung zur Erwerbsthätigkeit (...).“ 15 Einen bahnbrechenden neuen Schub erhielt die Frauenbewegung in der Schulfrage, als 1887 Helene Langes „Gelbe Broschüre“ erschien. Sie löste eine intensive öffentliche Debatte über die Frauenrechte aus, die sich auch in Petitionen (dem einzigen Instrument, mit dem sich Frauen an den Reichstag wenden konnten) niederschlug. Helene Lange vertrat eine gemäßigte Position, sie forderte eine eigenständige Mädchenbildung, die dem weiblichen Charakter und „geistiger Mütterlichkeit“ Rechnung trage.

Um 1900 verlagerte sich die Debatte über die Differenz der Geschlechter, und um des Zugangs zum Studium willen wurde zunehmend die Forderung nach „Gleichheit“ der höheren Bildung für Mädchen und Jungen aufgestellt, d.h. vor allem um die Möglichkeit des Abiturabschlusses für Mädchen gekämpft.

Auch in praktischer Hinsicht bildete Osnabrück keine Speerspitze feministischer Bildungspolitik, wie z.B. Karlsruhe,wo 1893 das erste deutsche Mädchengymnasium eröffnet wurde, oder Berlin, wo dank der Initiative und unter der Leitung von Helene Lange 1896 sechs Mädchen einen Gymnasialkurs mit dem Abitur abschlossen. Aber die Osnabrücker Mädchenschule war seit 1872 immerhin in zehn Jahrgangsklassen gegliedert mit von den Lehrern ausgesprochenen Versetzungen. (Vorgeschrieben waren zu diesem Zeitpunkt nur 9 Klassen). Außerdem besaß die Schule drei Oberklassen und eine Seminarklasse, die der Ausbildung von Lehrerinnen diente. (Das Examen mußten diese allerdings in Hannover ablegen.) Auch wurden für die Oberklassen akademisch ausgebildete 6 Lehrer berufen.

Insgesamt wirkt die Osnabrücker höhere Mädchenschule aber weitgehend unberührt von der großen Frauendebatte dieser Zeit. Sie wurde jedoch (oder gerade deshalb?) zunehmend von der (evangelischen) Osnabrücker Bevölkerung angenommen: 1905 überschritt die Gesamtzahl der Schülerinnen erstmals die 500.

Höhere Mädchenschulen seit 1908

Einen großen Erfolg und wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Mädchenschulbildung stellte die preußische Mädchenschulreform von 1908 dar. Der (in Osnabrück bereits bestehende) Typ des grundständigen (also von der ersten Klasse an aufnehmenden) Lyzeums mit zehn Jahresklassen wurde nun zum Unterbau für das Oberlyzeum. Dieses war entweder der Zweig „Frauenschule“ mit hausund volkswirtschaftlicher Orientierung oder der Zweig „Höheres Lehrerinnenseminar“ mit drei wissenschaftlichen Klassen und der einjährigen Seminarklasse, die der Berufsausbildung für Lehrerinnen an der Unterund Mittelstufe höherer Mädchenschulen diente und deren Abschluß gleichzeitig als Lehrbefähigung für die Volksschule galt.

Daneben durften jetzt für besonders begabte Mädchen „Studienanstalten“ eingerichtet werden, die auf drei verschiedenen Wegen nach sechs oder sieben Jahren Lyzeum aufbauend zum Abitur führten, denn bei der Reform von 1908 wurden zugleich endlich Frauen mit Abitur zum Studium in Preußen zugelassen.

Damit schienen die wichtigsten Forderungen zur Gleichberechtigung in der Schulfrage eingelöst zu sein.

Maedchenbildung 6 1Allerdings kritisierte z.B. Helene Lange 1914, „daß für höhere Mädchenschulen nur der sechzehnte Teil dessen ausgegeben werde, was die höheren Knabenschulen den Staat kosten.“ 16 Lehrerinnen unterrichteten zwei Stunden weniger als Lehrer, wurden aber auch erheblichSchulklasse, 1917 schlechter bezahlt. Für sie galt nach wie vor „Zölibatsgebot“,d.h. im Falle ihrer Verheiratung mußten sie aus dem Schuldienst ausscheiden eine Regelung, die auch in der frühen BRD zum Teil noch praktiziert wurde. Außerdem gab es eine „Quotenregelung“: Es wurde vorgeschrieben, daß an staatlichen Mädchenschulen mindestens ein Drittel der Lehrkräfte männlich sein mußten. (Nur so glaubte „man“ das geistige Niveau der Mädchenschulen garantieren zu können, da ja bisher nur Männer akademisch ausgebildet waren.) In Osnabrück war die Ursulaschule schon 1912 in der Lage, einen Abiturzweig einzuführen. Für das städtische Mädchenlyzeum lehnte dagegen Direktor Heuermann die Einrichtung einer solchen „Studienanstalt“ ab, weil sie der Stadt zu hohe Kosten verursachen und nur wenigen Mädchen zugute kommen würde. Heuermann scheiterte allerdings dann bei der Errichtung des von ihm favorisierten Zweigs einer „Frauenschule“ im Oberlyzeum.

Diesen Zweig konnte seit 1910 die Angelaschule anbieten, die sogar 1929 als eine der ersten deutschen Frauenoberschulen nach dreijährigem Schulbesuch mit dem „Werkabitur“ abgeschlossen werden konnte, einer bis in die Nazizeit allerdings noch eingeschränkten Fachhochschulreife. Beim städtischen Lyzeum blieb es beim Typ Lyzeum, Oberlyzeum mit drei „wissenschaftlichen“ Klassen (O III, O II, O I) und einer Seminarklasse.

Da die Reform von 1908 auch genauere Vorschriften für die Qualifikation des Lehrpersonals beinhaltete, das die seminaristisch ausgebildeten Lehrerinnen benachteiligte, sofern sie nicht Fortbildungskurse machten, gab es in diesem Bereich offenbar Druck für weitere Reformen. Letztlich liefen sie darauf hinaus, daß die Schülerinnen, die das Oberlyzeum und die Seminarklasse abgeschlossen hatten, an der Universität, allerdings beschränkt auf die philosophische Fakultät, studieren und nach drei Jahren Studium als akademisch gebildete Lehrerinnen abschließen konnten. Die Seminarklasse wurde deshalb auch als „der vierte Weg“ zum Studium (neben den drei Wegen der Studienanstalten, die mit dem Abitur abschlossen) bezeichnet. Tatsächlich wurde das Oberlyzeum ein wesentlich gängigerer Typ höherer Mädchenbildung als die Studienanstalten. 17 In der Weimarer Verfassung von 1919 wurde die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frau verkündet, die den deutschen Frauen erstmals das Wahlrecht zugestand. Dieser Gleichheitsgedanke wirkte sich auf der Schulebene weniger deutlich aus. Alle Pläne zu einem reichseinheitlichem Schulwesen scheiterten schnell vor allem am Widerstand der Konfessionsschulen und erschöpften sich weitgehend mit dem Reichsgrundschulgesetz von 1920, in 7dem die vierjährige gemeinsame Grundschule eingeführt wurde. Außerdem wurde für die zukünftigen Volksschullehrer und -lehrerinnen das Abitur zur Voraussetzung gemacht.

Damit aber entstand eine erhöhte Nachfrage nach dem Abitur.

1923 wurde dann der Typus eines neunjährigen neusprachlichen Mädchengymnasiums mit Abiturabschluß geschaffen, der auf den vier Grundschuljahren aufbaute also der heute gängige Gymnasiumstyp. Eine Folge war, daß sehr viele Lyzeen so auch das Osnabrücker das alte Oberlyzeum mit dem Lehrerinnenseminar in die Oberstufe dieses Typs umwandelten. Dies war das neue „Oberlyzeum“. Dieser Typ erwies sich sehr rasch als die attraktivste unter den zum Abitur führenden Schulformen und verdrängte bald die Studienanstalten.

Die Reform von 1923 war entscheidend für den großen Aufschwung in der Mädchenschulbildung; schon 1931 stellten die jungen Frauen im Deutschen Reich ein Fünftel, in Preußen ein Viertel der Abiturienten, in urbanen Regionen wie z. B. Hamburg sogar schon 40%. 18 Obwohl das Klischee von den dem Wesen der Frau angepaßten Bildungszielen bei Festreden viel verwendet wurde, ist eindeutig, daß sich in der Schulwirklichkeit Mädchenund Jungenschulen (Realgymnasien) immer weiter anglichen, und zwar erwies sich das Mädchenschulwesen „strukturell und curricular als richtungsweisenden Modell von Schule“. 19 Bei Mädchenschulen wurden – gerade in den kleineren Städten – Mischformen favorisiert, neben der zum Abitur führenden Oberstufe sollten auch Frauenschulklassen angeboten werden. (In Osnabrück wurde diese Form erst in der NS-Zeit verwirklicht; konzeptionell ist sie schon seit 1908 vorgesehen, also als Idee kein Produkt der NS-Zeit.) Bei dem als „modern“ geltenden Zweig der Frauenschule ist die Zielsetzung ausdrücklich 8 auf sogenannte Frauenberufe und -berufungen ausgerichtet (Kindergärtnerin, Gewerbelehrerin, Hauswirtschafterin). Dies verdeutlicht den sozialen Wandel gegenüber der Mädchenschulklientel des 19.Jahrhunderts: Standen dort noch religiöse und literarische Bildung im Zentrum, ausgerichtet auf die Bürgersfrau, die den Haushalt den Dienstboten übertrug, so zielt die neue Frauenschule auf die Frau, die bis zur Verheiratung berufstätig ist und dann die Kindererziehung und Hausarbeit weitgehend selbst erledigen wird.

„Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.“ Reichsbildungsminist er Rust, 1938

Die NS-Bildungspolitik konnte relativ nahtlos an die Bildungsziele der Frauenschule anschließen. So heißt es in einem Erlaß des Reichsbildungsministers Rust vom Januar 1938: „Eine gemeinsame Schulerziehung der Geschlechter widerspricht nationalsozialistischem Erziehungsgeiste. Für Jungen und Mädchen sind daher grundsätzlich getrennte Schulen eingerichtet, die neue hauswirtschaftliche Form der Oberschule für Mädchen steht dabei in ganz besonderem Maße im Dienst der Forderungen, die das Leben an die deutsche Frau und Mutter in Familie, Beruf und Volksgemeinschaft stellt.“ 20 Ebenfalls 1938 formuliert Rust bei grundsätzlichen Überlegungen zum höheren Schulwesen: „Die naturgegebene Verschiedenheit der Geschlechter prägt sich schon im Kinde und seinem Lebenskreis aus, darum muß die Erziehung der Mädchen zu seiner Verantwortung in Volk und Staat aus eigener Wurzel erwachsen. Das heißt, daß der Unterricht in allen Fächern des Frauenschaffens ohne Gefühlsschwärmerei von der Natur und der Welt des Weibes ausgehen und das Ziel im Auge behalten muß, das der Führer in dem Satze ausgesprochen hat: "Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.“ 21 Diese Zielsetzung schlägt sich z.B. in der Erhöhung der Stunden für „Leibeserziehung nieder, einem Fach, dem überhaupt besonderes Augenmerk auf ministerieller Ebene gewidmet wurde.

Hier findet sich dann auch das Ziel, das Bewußtsein vom „Wert der eigenen Rasse“ zu wecken. 22 Diese rassistische Komponente ist der neue eigenständig nationalsozialistische Beitrag der Mädchenschultheorie, der sie von der Zielsetzung der Frauenschule, wie sie seit 1908 konzipiert ist, in trauriger Weise absetzt.

Ein weiterer neuer bildungspraktischer Aspekt der NS-Zeit ist, daß der Abschluß der Frauenschulen (erstmals ab 1938) auch als Abitur mit allgemeiner Hochschulberechtigung galt ein Anspruch, der von den Behörden auch notfalls gegen den Einspruch der Universitäten durchgesetzt wurde., die z. T. diese Studentinnen mit „Puddingabitur“ ablehnten.

Maedchenbildung 9 1Eine Kombination von rassistischer und sexistischer Diskriminierung zeigte sich am 25. April 1933 in dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“. Das Gesetz zielte auf einen Numerus Clausus. In den Ausführungsbestimmungen hieß es, daß bei dem kommenden Abiturjahrgang höchstens 10% Mädchen sein dürften und die Gesamtzahl der nichtarischen Schüler der höheren Schulen 5% nicht überschreiten dürfe. 23 Der Numerus Clausus für Mädchen wurde aber bereits 1935 wieder aufgehoben, und der Anteil der Studentinnen stieg bis ins Sommersemester 1943 relativ und absolut auf eine nie zuvor erreichte Höhe in Deutschland (47,8% der Studierenden).

Die nationalsozialistische Ideologie stand in ihrer Ablehnung „studierter Frauen“ also in krassem Gegensatz zur tatsächlichen Entwicklung! Dagegen verschärfte sich die antisemitische Komponente des Gesetzes von 1933 bekanntermaßen kontinuierlich, bis nach der Reichspogromnacht am 9.November 1938 ein Erlaß des Reichserziehungsministeriums befand, daß „es keinem deutschen Lehrer und keiner deutschen Lehrerin mehr zugemutet werden kann, „an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen“. Auch verstehe „es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen“. 24 In Osnabrück bestand seit dem 1. April 1935 eine dreijährige hauswirtschaftliche Form der Oberstufe neben der sprachlichen Form der Anstalt. 1938 wurde erstmalig an diesem neuen Zweig die Reifeprüfung abgenommen. Studienwünsche der Abiturientinnen zeigen, daß trotz Zuerkennung der allgemeinen Hochschulreife überwiegend die für die Frauenoberschule traditionellen Berufe wie Gewerbelehrerin, Volksschullehrerin, Säuglingsschwester, chemische Laborantin u. ähnl. angestrebt werden. Einige möchten Ärztin werden; ganz exotisch mutet der Berufswunsch „Bildhauerin“ an.

Maedchenbildung 9 2Die Errichtung eines Frauenschulzweigs an der Städtischen Mädchenoberschule verlief in Osnabrück 1935 offenbar nicht ganz unangefochten. So finden sich in den Akten des Staatsarchivs Hinweise darauf, daß die neue städtische Frauenschule zunächst nicht überall als vollwertig akzeptiert wurde, vor allem wohl an der Gültigkeit des Reifezeugnisses gezweifelt wurde, da die Schule nicht Frauenoberschule hieß. Dies wurde 1937 unter Einschaltung des nationalsozialistischen Bürgermeisters als unangemessenes Gerücht öffentlich angeprangert; es wurde darauf hingewiesen, daß im kommenden Schuljahr 37/38 weit über 80 Schülerinnen die drei oberen Klassen der Frauenschule (=Oberschule f.Mädchen, hauswirtschaftlicher Zweig) besuchen würden. Auch müsse das Schülerinnenheim am Schölerberg ausgebaut werden. Dieses Heim war für die auswärtigen Schülerinnen der Frauenschule als Wohnheim zu sehr günstigen finanziellen Bedingungen eingerichtet worden. (Preis für 9Anzeige in „Das Deutsche Mädel“, 1935 aus: Osnabrücker Tageblatt, 11.2.37 Unterkunft und Verpflegung monatlich 55,RM, für das Schulgeld monatlich 20 – 25,RM) Für dieses Wohnheim wurde in den verschiedenen Zeitungen der Umgebung kräftig Werbung betrieben: mit Hinweisen auf den möglichen Abiturabschluß und das schöne Umland.

Tatsächlich entwickelte sich der hauswirtschaftliche Zweig des Oberlyzeums, seit 1937 „Oberschule für Mädchen“ genannt, sehr gut. Die Reifeprüfung im Herbst 1940 bestanden 35 Schülerinnen am hauswirtschaftlichen und 18 am sprachlichen Zweig., d.h. die Frauenschule wurde in dieser Zeit zum führenden Typ gymnasialer Mädchenausbildung in Osnabrück.

Die anfänglichen Probleme der städtischen Frauenschule in der Osnabrücker Öffentlichkeit sind wohl auch auf dem Hintergrund der nationalsozialistischen Politik gegenüber den katholischen Ordensschulen zu sehen: der Ursulaschule am Dom, die seit 1936 syste10 matisch abgebaut wurde und deren Räume dann der städtischen Mädchenoberschule für den sprachlichen Zweig zur Verfügung gestellt wurden, und der Angelaschule in Haste, die ja bereits seit 1910 erfolgreich eine der ersten Frauenoberschulen führte. 1941 mußten beide Ordensschulen gänzlich geschlossen werden .

Nach Kriegsausbruch war die Zeit für bildungspolitische Überlegungen und Reformen vorbei. Bis zum Kriegsende ging es zunehmend nur noch um die Bewältigung des Alltags.

Und dies gilt auch für die Zeit nach dem Krieg; im Vordergrund standen die praktischen Probleme des Wiederaufbaus.

Das dreigliedrige Schulsystem wurde in den Westzonen wieder übernommen. Besonders die britische Besatzungsmacht wollte dabei der Schule eine wichtige Rolle bei der anstehenden „Re–education“, der Erziehung der Deutschen zur Demokratie, zukommen lassen. Die Frage, ob Koedukation oder nach Geschlechtern getrennte Gymnasien, wurde nicht diskutiert. Und so knüpften die deutschen Kultusverwaltungen mit britischer Billigung an die Formen in der Weimarer Republik an. Anders verlief die Entwicklung nur in der sowjetisch besetzten Zone: Hier wurden alle Schulen sofort koedukativ eingerichtet.

In der BRD blieb dagegen die Existenz von reinen Mädchenoberschulen bis in die sechziger Jahre weitgehend unhinterfragt. Im Zuge der allgemeinen Restauration breitete sich zudem eine neue Weiblichkeitsideologie aus; Berufstätigkeit der Mütter war nicht mehr angesagt, wenn sie nicht aus materiellen Gründen nötig war. Zu präsent war noch das Schicksal der vielen „Schlüsselkinder“ und der vielen Witwen, die nach dem Krieg hart um die Existenz ihrer Familie kämpfen mußten. Und besonders die katholische Kirche hielt die Koedukation zudem aus sittlich-religiösen Gründen für verwerflich.

„Meiner Frau untersteht alles, was mit der Einrichtung der Schlafzimmer zu tun hat. Sie stellt die Speisekarte zusammen und bezahlt Rechnungen.“ A.S. Neill

So wurde z.B. noch 1962 in einer katholischen Frauenzeitschrift gefordert, Mädchenschulen sollten zum „Frau-Sein“ erziehen, „ein FrauSein, das zum Sorgen, Beschützen und Dienen bereit ist, das für Sittlichkeit und Ordnung eintritt, das jede Arbeit als Abbild von Gottes Wirken begreift.“ 25 In Osnabrück bedeutete das für das Lyzeum eine strukturelle Kontinuität. Auch der hauswirtschaftliche Zweig mit dem „Puddingabitur“ wurde weiter geführt und lief erst 1961 am Heger-Tor-Wall aus. Allerdings befähigte nun der Abschluß an den Frauenoberschulen nicht mehr zur Universitätsreife, sondern war eingeschränkt auf den Zugang zur Ausbildung als Volkschullehrerin, für das künstlerische Lehramt und für die gehobenen pflegerischen Berufe. Ab 1956 wurde die Bezeichnung „Gymnasium“ für alle Schulen, deren Abschluß zum Universitätsstudium berechtigte, eingeführt.

Das führte am Heger-Tor-Wall zu der komplizierten Benennung: „Gymnasium für Mädchen. Neusprachliches Gymnasium und Frauenoberschule.“ 1959 wurde der hauswirtschaftliche Zweig zum Schölerberg ausgelagert und dann dem 1961 entstehenden Käthe-Kollwitz-Gymnasium eingegliedert, das bis 1990 bestand. Hauswirtschaft und Nadelarbeit wurden hier weiter unterrichtet, „Technologie der Hauswirtschaft“ konnte nach der Oberstufenreform von 1976 als Leistungsfach gewählt werden.

Die Absolventen des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums können heute also mit ebensolcher Berechtigung wie die des Gymnasiums „In der Wüste“ auf ihre gemeinsame Tradition der „höheren Töchterschule“ zurückschauen.

Erst die Studentenbewegung, deren mutigste Exponenten u.a. auch die Familie als überholte bürgerliche Institution anprangerten und neue soziale Modelle wie Kommunen, gemeinsame Erziehung in Kinderläden und antiautoritäre Erziehung vorlebten, ließ auch die Geschlechterfrage in der öffentlichen Diskussion wieder aufleben. Irgendwann störte es wohl Frauen, daß die führenden Männer der Bewegung zwar gern von Chancengleichheit sprachen, gleichzeitig aber die Frauen zum Kaffeekochen abkommandierten, daß z.B. einer der führenden Theoretiker, Herbert Marcuse, die Frauen nach wie vor im Haushalt tätig sehen wollte und der Guru der antiautoritären Erziehung, A.S. Neill, ganz unbefangen schrieb: „Meiner Frau untersteht alles, was mit der Einrichtung der Schlafzimmer zu tun hat. Sie stellt die Speisekarte zusammen und bezahlt Rechnungen. Die Lehrer werden von mir angestellt und entlassen.“ 26 Frauen fingen an, sich zu organisieren und Forderungen zu stellen. Wissenschaftliche Untersuchungen verwiesen darauf, daß nicht nur Arbeiterkinder unterprivilegiert waren, sondern auch Mädchen. 1965 betrug ihr Anteil an den Abiturienten 37%. Viele Schülerinnen gingen damals nach der 10.Klasse mit der Mittleren Reife ab, weil ein Studium der Töchter für die Eltern als eine letztlich überflüssige Investition galt. „Du heiratest ja doch“, war eines der gängigen Argumente, um die Tochter auf eine raschere Ausbildung zu lenken, die dann auch noch materielle Früchte tragen konnte, bevor ein Ausscheiden aus dem Beruf spätestens wegen der Geburt eines Kindesanstand.

Maedchenbildung 11 1Der Umschwung in Osnabrück ging interessanterweise von dem Stadtschülerring aus, der aus den Schulsprechern der Gymnasien und ihren Vertretern bestand. Sie hatten im Mai 1969 gemeinsam mit den Schulelternräten eine Elternbefragung ausgearbeitet, die die Eltern um ihre Stellungnahme zur Koedukation bat. In dem Brief an die Eltern hieß es: „An den deutschen Volksund Realschulen ist es längst üblich, den Unterricht für Mädchen und Jungen gemeinsam durchzuführen.

Die Entwicklung des Erziehungswesens führte zu einer gemeinsamen Unterrichtung. In der modernen Arbeitswelt, in der Öffentlichkeit und in der Familie stehen Mann und Frau, Jungen und Mädchen als gleichberechtigte, sich gegenseitig ergänzende und fördernde 11Neue Osnabrücker Zeitung, 6.12.69 Partner nebeneinander. Anerkannte Erziehungswissenschaftler befürworten seit langer Zeit die Koedukation.“... 27 Die Umfrage ergab ein überwältigend eindeutiges Ergebnis: 89,4% der Eltern sprachen sich für die Koedukation aus. Und so beschloß auch die Stadt im Februar 1970, mit dem kommenden Schuljahr 1970/71 an vier Gymnasien die Koedukation einzuführen. Für das Mädchengymnasium bedeutete dieser Entschluß den Bruch mit der Tradition als Mädchenschule. Sicher gab es – gerade bei den älteren Kollegen – auch Ängste vor dem zu erwartenden schwierigeren Unterricht mit Jungen; aber der Trend der Zeit war so eindeutig für die Koedukation, daß die meisten der befragten Lehrer/Lehrerinnen sich gar nicht daran erinnern können, daß es überhaupt eine Debatte darüber gegeben habe.

Die Einführung der Koedukation wurde von anderen Entwicklungen überlagert, die als viel einschneidender empfunden wurden; so war gerade der Umzug in das neue Schulgebäude in der Wüste erfolgt, die Oberstufenreform stand an, und das Klima der Studentenbewegung veränderte die alten Autoritätsstrukturen an der Schule so stark, daß diese Zeit von vielen älteren Lehrern und Lehrerinnen als die schlimmste Zeit ihres Lehrerdaseins erinnert wird.

Die katholischen Gymnasien Ursulaschule und Angelaschule blieben noch etwas länger reine Mädchenschulen; letztlich beugten dann aber auch sie sich dem Trend der Zeit . Das ist 12 das Ende der Mädchenschulen in Osnabrück. Daß dies nicht nur Anlaß zum Jubeln über den Fall einer überholten Institution ist, mögen die folgenden Hinweise beleuchten: Zunächst ein etwas vordergründiger, aber vielleicht doch symptomatischer Hinweis: Die Schulleitung des Gymnasiums „In der Wüste“ ist in kurzer Zeit wieder vermännlicht: Die A16 und A15-Stellen sind heute (1997) zu 100% von Männern besetzt. Dies war in den Zeiten der Mädchenschule anders.

Die Koedukation selbst ist nicht mehr so unangefochten das pädagogische non plus ultra. Feministinnen entdeckten Benachteiligungen von Mädchen im Unterricht, die stärkere Zuwendung von Lehrkräften gegenüber Jungen aufgrund ihrer Unruhe, Rollenklischees in den Lehrbüchern... 28 Eindringlich beklagt Claudia Gottfried, Schülerin der ersten koedukativen Klasse am Gymnasium „In der Wüste“ diese Benachteiligungen der Mädchen: „Im Unterricht selber wurde nach meinen Erfahrungen noch ganz stark in den alten Rollenmustern unterrichtet, von denen zu verabschieden es mir und vielen meiner Mitschülerinnen in den Folgejahren so schwer wurde. Mädchen galten immer noch als nett, lieb und ruhig. Sie kompensierten mangelnde Intelligenz oder auch Kreativität mit Sorgfalt, Ordnung und Fleiß (...). Pep und Witz, Durchsetzungskraft und Entscheidungsfähigkeit wurden in der Regel den Jungen zugeordnet. Mädchen „konnten“ Sprachen, Geisteswissenschaftenund Biologie, Jungen Naturwissenschaft und Technik. Und irgendwie haben wir das auch geglaubt. Obwohl ich zu Hause Radios und Telefone gebaut habe und später den Chemieleistungskurs belegt hatte, bin ich schließlich doch vor einem technischen oder naturwissenschaftlichen Studium zurückgeschreckt und habe den für Frauen bewährten Weg in die Geisteswissenschaft gewählt.“ 29 Es bleibt das Unbehagen bestehen, daß trotz durchschnittlich besserer Zensuren in der Schule Frauen bei weitem nicht die Schaltstellen der Macht in dem ihnen zahlenmäßig zustehenden Umfang erreichen. Gleichstellungsbeauftragte und Quotierungen scheinen daran nur wenig zu ändern.

Nach wie vor bleiben soweit beobachtbar Haushalt und vor allem die aufwendige Kindererziehung Angelegenheit der Frau, und dadurch ergibt sich außer bei „Powerfrauen“, die alles zusammen erledigen können für Frauen eine Entscheidung zwischen Familie oder Karriere, eine Entscheidung, die Männer in der Regel nicht treffen müssen (oder können). Und die gegenwärtige wirtschaftliche Krise ist wenig geeignet, diese klassische Arbeits-und Rollenverteilung aufzubrechen. 30 In der modernen Hirnforschung werden heute zunehmend Unterschiede in der Denkstruktur zwischen den Geschlechtern ausgemacht. Dagegen interpretieren vor allem radikale Feministinnen „Geschlecht“ als primär kulturell vermittelte, nicht primär biologische Größe. Forschungsergebnisse, die grundsätzliche Unterschiede im Denken zwischen den Geschlechtern behaupten, werden in diesen Kreisen als überholtes „biologistisches“ Denken abgelehnt. Hinter dieser rigorosen Haltung steht erkennbar die beängstigende Erfahrung, daß die biologischen Unterschiede in der Geschichte zu erheblichen sozialen geführt haben.

Und die geschiedene, alleinerziehende Frau oder die aus materiellen Gründen bei einem sie schlecht behandelnden Mann ausharrende Ehefrau sind gängige Schreckvisionen der heutigen Mädchengeneration. Unbezweifelbar ist, daß bis heute eher das Bild von der Doppelrolle der Frau und Mutter als Leitbild in unserer Gesellschaft verbreitet ist als die Doppelrolle von Mann und Vater. Die wenigen männlichen Lehrer z.B., die wegen der Kindererziehung eine Stundenreduzierung beanspruchen (eine Möglichkeit, die der Staat ihnen inzwischen einräumt), treffen bei Schülern, Eltern und Kollegen, vor allem aber bei den Stundenplanmachern nicht durchweg auf Verständnis oder gar Sympathie.

Maedchenbildung 13 1In ihrer Rede zum 140jährigen Jubiläum des Gymnasiums „In der Wüste“ 1988 führte die Frauenbeauftragte des Landes Niedersachsen Antonia Wigbers aus, wie wichtig die Erziehung zu einem partnerschaftlichen Miteinander ist, und verwies darauf, daß wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, daß Jungen und Mädchen sehr unterschiedliche Vorstellungen von ihrer Lebensplanung haben. „Während ein Großteil der Jungen an der traditionellen Aufgabenteilung festhalten möchte, stellen sich die meisten Mädchen vor, daß sie später die Aufgaben in Haushalt und Familie mit ihrem Lebenspartner teilen. Es liegt auf der Hand, daß sich diese Lebensvorstellungen nicht harmonisch ergänzen“. 31 Die Schule ist ein Ort, an dem die Frage des Geschlechterverhältnisses reflektiert und diskutiert werden kann und muß. Sie kann diese Frage nicht lösen, wohl aber kann sie dazu verhelfen, daß die zukünftige Generation diese Frage mehr oder weniger bewußt entscheidet.

Ob die Rückkehr zu reinen Mädchenschulen, die Gründung einer Frauenuniversität, wie sie von Ayla Neusel, Professorin für Hochschulforschung an der Universität Kassel gefordert wird, oder getrennte Kurse für Jungen und Mädchen in bestimmten Fächern (Physik, Informatik, Sport) gute Lösungen sind, wird 13aus: Brigitte 21/97 sich wohl erst herausstellen, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden. Bisher ist Deutschland allerdings auf diesem Gebiet nicht sehr experimentierfreudig.

In ihrem Brief, geschrieben während eines Forschungsaufenthaltes an einem traditionsbewußten Frauencollege in den USA, beklagt Katharina Gerstenberger, eine Schülerin der ersten „gemischten Klasse“ 1971 an der „Wüste“, daß sie erst jetzt etwas von der Tradition dieser Schule als Mädchenschule gehört habe. Sie überlegt, ob sie sich an einer „reinen“ Mädchenschule anders entwickelt hätte, und kommt zu dem Fazit: „Klar ist, daß ich heute nicht mehr so überzeugt bin, daß gemischte Klassen einen besser aufs Leben vorbereiten, und daß die Geschlechterverhältnisse, so wie ich sie in der „Wüste“ erlebt habe, nicht natürlich sind, zum Glück.“ 32 Das Jubiläum der Schule ist hoffentlich ein Anlaß, solche Klagen und Stoßseufzer in Zukunft als überholt gelten zu lassen.

 

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