Gymnasium „In der Wüste”
Schülerbegleitung, Begabungsförderung, MINT-EC-Schule, Europaschule, Musikprofil, Sportfreundliche Schule

„Du wirst … allen erzählen, was sie uns angetan haben!“

Erna de Vries zu Gast am Gymnasium „In der Wüste“ am 09. März 2016

Bild: NOZ
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Eine gewisse Routine als Zeitzeugin ist der mittlerweile stolze 92 Jahre zählenden Erna de Vries nicht abzusprechen, hat sie doch mittlerweile für ihr unermüdliches Engagement gegen das Vergessen der NS-Verbrechen zahlreiche Ehrungen, u.a. das Bundesverdienstkreuz, erhalten. In ihrer Heimat Lathen, deren Ehrenbürgerin sie auch ist, wird nun auch der zentrale Platz ihren Namen tragen, und in Münster hat sich mittlerweile eine Schule diese bedeutende Zeugin der dunkelsten deutschen Vergangenheit als Namenspatin auserkoren.

Und das zu Recht. Aufrecht sitzend und mit -an diesem Tag- etwas angegriffener Stimme, doch dennoch stets klarer Sprache erzählt sie den Schülerinnen und Schülern der Klassen 9 und 10 ihre bemerkenswerte Geschichte, die allen die Sprache verschlägt. Über eine Stunde bleibt es still in der Schulaula, die Schülerinnen und Schüler lauschen gebannt den Worten von Frau de Vries, welche die schmerzhaftesten Phasen ihres Lebens altersgemäß, nacherlebbar und eindringlich vorträgt: 15 Jahre alt war sie gewesen, als SA-Trupps, als Zivilisten getarnt, am 9. November 1938 in die Wohnung ihrer Familie in Kaiserslautern eindrangen, die Küche verwüsteten, Geschirr zerschlugen, Decken aufschlitzten, Schränke ausräumten und anschließend alles unter Wasser setzten. Vorherige Diskriminierungen verdichteten sich nach und nach, immer mehr, unaufhaltsam zu einer bedrohlichen, beängstigenden Schlinge, aus der es kein Entkommen zu geben schien.

Erna und ihre Mutter waren Jüdinnen, der Vater, der früh verstorben war, ein evangelischer Christ. 1943 sollte dann nach vielen Tiefschlägen und Einschnitten gegen die Familie die Mutter deportiert werden. Nach Auschwitz, dem Inbegriff des Grauens. So viel war auch damals schon allgemein bekannt. Als sogenannte „Halbjüdin“ hätte Erna gar nicht mitfahren sollen, aber sie wollte ihre Mutter nicht allein lassen und bedrängte die zuständigen Beamten so lange, bis diese sie dann im Zuge einiger Schikanen ihre Mutter begleiten ließen.

In Auschwitz lernten Erna und ihre Mutter die Hölle auf Erden kennen. Misshandlungen, Verletzungen, Schmerzen, Demütigungen, Angst, Rauch und die Leichenberge. Und auch Erna kam eines Tages in den Todestrakt. Als sie auf dem Boden hockend hilflos ihrem Schicksal entgegensah, konnte sie nur noch beten: „Ich möchte noch einmal die Sonne sehen.“ Da geschah das Wunder. Ihre Nummer wurde aufgerufen. Aufgrund eines Himmler-Erlasses sollten alle „Mischlinge 1. und 2. Grades“ in der Rüstungsindustrie arbeiten. Sie kam nach Ravensbrück, in ein Konzentrationslager, in dem die Firma Siemens eine Produktionsstätte unterhielt und Häftlinge beschäftigte. Ihre Mutter musste sie dann nach einem tränenreichen Abschied zurücklassen, später erfuhr sie nur noch von ihrem Tod in Auschwitz, nichts aber über die genauen Umstände.

Die Verlegung war Ernas Rettung. Zwar war es immer noch ein KZ, aber kein Vernichtungslager. Sie überlebte. Im April 1945 setzte die SS das gesamte Lager auf einen letzten Marsch in Richtung Westen. Mehrfach am Ende ihrer Kräfte erreichte Erna und ihre Gefährtinnen die Nachricht, dass amerikanische Soldaten den Zug erreicht hatten. „Und da waren wir frei“, schließt Erna de Vries ihren Bericht.

Tief beeindruckt von diesem Schicksal, von der zerstörten Jugend des vor ihnen sitzenden Menschen und den tragischen, traurigen Momenten dieses Lebens stellen die Schülerinnen und Schüler zuerst zögerlich, dann immer neugieriger ihre Fragen: ob sie noch einmal in Auschwitz gewesen sei, ob die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Situation in Deutschland sie an die damalige Lage erinnere, wie es ihren Verwandten und Nachbarn ergangen sei. Auf all dies antwortet Frau de Vries geduldig und umfassend. Am Ende dürfen alle Gäste auf Wunsch auch ihre Tätowierung betrachten, die sie in Auschwitz erhalten hat. Denn wie schon Sally Perel bei seinem letzten Besuch bei uns betonte: Alle Zuhörer sind nun zu Zeitzeugen geworden. Ihre Pflicht wird es sein, auch in Zukunft Zeugnis abzulegen von den grauenhaften Verbrechen des Nationalsozialismus, des Totalitarismus, des Antidemokratismus! Es gilt eben nicht die Phrase „Das wird man ja noch mal sagen dürfen...“ - nein, „das“ darf man eben nicht. Angesichts der realen Konsequenzen menschenverachtender Äußerungen verbieten sich jegliche Verharmlosungen oder Verniedlichungen.

Berichterstattung in der NOZ