1990er Jahre

Eva Heemann

Die neunziger Jahre Lebensgefühl und Lebensform von Schülerinnen und Schülern heute

Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios temptaris numeros. Ut melius, quidquid erit, pati, seu pluris hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam, quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare Tyrrhenum: sapias, vina liques, et spatio brevi spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit invida aetas: carpe diem, quam minimum credula postero. (Horaz 1 )

In der Nachdichtung von Fritz Graßhoff: Du mußt nicht fragen, wann uns beiden: das Ende blüht verzeih! Ich halte das für mehr als unbescheiden. Die Horoskope laß! Laß alle Rechnerei, weil dieses Rätselraten nur bedrückt. Wir nehmen hin, was uns der Himmel schickt Wir leben diesen Winter, Winterzeit am Meer. Wir sehn es donnernd auf die Klippen schlagen.

Wenn dieser Winter unser letzter wär, Leukonoe, was nützte schon dein Fragen? Sei klug. Geh hin, zieh Wein vom Spunde. Gieß Wunsch und Hoffen nur in diese Stunde. Und sprechen laß uns, denn es lebt, wer spricht. Erfüll den Tag der Zukunft traue nicht. 2

Die neunziger Jahre sind noch nicht vorüber, eine historische Würdigung ist noch nicht möglich. Aber Vorarbeiten dazu können schon geleistet werden und ein besseres Verständnis vielleicht fördern.

Die neunziger Jahre begannen mit einem historisch gewichtigen Ereignis, der Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Indiz für die Schwächung des Kommunismus. Diese bedeutete den Verlust der ideologischen Orientierung an den Kategorien 2 des Ost-West-Gegensatzes seit 1945 für die ältere Generation, die der Eltern, Großeltern und Lehrer. Die unerwartet hohen finanziellen Belastungen der „Wende” für die erweiterte Bundesrepublik Deutschland verstärkten zudem Entwicklungen, die längst vorher eingesetzt hatten, seither aber noch greifbarer wurden: Sie beschleunigen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die einigermaßen verläßliche Zukunftsplanungen im Hinblick auf Beruf und Arbeitsplatz und auch Ehe und Familie unmöglich machen. Solche gesamtgesellschaftlichen Erfahrungen prägen die Jugendlichen und rufen bei ihnen ein spezifisches Lebensgefühl hervor, wie es der älteren Generation eher fremd war und großenteils noch ist.

Ein paar Schlaglichter!

27 Schülerinnen und Schüler der 12. Jahrgangsstufe des Gymnasiums „In der Wüste” haben im Sommer 1997 anonym einen Fragebogen mit mehr als 20 Fragen zu ihrem Lebensstil, dessen Finanzierung, ihrer Einstellung zur Schule und ihrer Vorstellung über ihre Zukunft ausgefüllt.

Auf die Frage „Wie stellst Du Dir Dein Leben in 15 Jahren vor?” wurde u.a. geantwortet:

„Keine Ahnung!” „Keine Ahnung! (Beruf, noch kleine Kinder)” „Weiß nicht. Entweder Job oder arbeitslos.” „Ich habe keine bestimmte Vorstellung, es kann noch so viel passieren. Ansonsten: Carpe diem!” (sarkastisch) „Ich lebe als Sozialhilfeempfänger auf der Straße zusammen mit meinen Freunden.” „Wer weiß? Vielleicht lebe ich dann schon gar nicht mehr.” „Ich möchte gern zur Arbeit gehen. Ich will nicht einsam sein und einen schönen großen Garten haben. Ab und zu mal eineReise machen. Viele, viele, viele Parties.” „Beruf nach dem Studium, vielleicht Teilzeitjob. Familie, Mann, drei Kinder.Vielleicht ein Leben im Ausland, eher wohlhabend, keine Einschränkung meiner Freizeit und Interessen.” „Feste Anstellung, einigermaßen gutes Gehalt, vielleicht eigene Familie, heiraten möchte ich aber nicht unbedingt.” „Ich werde irgendwo zwischen Afrika und Kanada sein und mein Leben exzessiv genießen. Carpe diem!”

Kennzeichnend ist die Unsicherheit, was werden wird, ist der Wunsch nach beruflicher Arbeit und nach festen Beziehungen in einer eigenen Familie auch ohne Heirat und einem Freundeskreis, mit dem man die Freizeit verbringt. Die jungen Leute haben, wie sie auf dem Fragebogen bekunden, ziemlich viel Geld zur eigenen Verfügung, Taschengeld von den Eltern, Geschenk von Verwandten, Entgelt fürs Jobben, Geld, das sie ausgeben für „Klamotten”, Wochenendvergnügungen wie Disco-, Kinooder Restaurantbesuche, für den Führerschein und für Ferienreisen ins Ausland. Sie sehen offenbar weniger fern und sitzen weniger lange am Computer, als mancher Erzieher befürchtet. Den größeren Teil ihrer Zeit verbringen sie mit Schularbeiten, Sport, Arbeit gegen Bezahlung und Reden mit Freunden. Sexualität ist für die meisten kein Tabuthema. Viele haben eine mehr oder minder feste Beziehung und sprechen darüber mit ihren Freunden und auch mit den Eltern. Die meisten gehen gern zur Schule, schließlich hat die Schule einen hohen Unterhaltungswert sei es, daß man Freunde trifft und mit ihnen etwas plant oder daß man bei Lehrern oder Lehrerinnen mit Witz kreativen Unterricht hat; Langweiler finden keine Gnade vor ihren Augen.

Schülerinnen und Schüler einer Klasse 11 des GIW, die sich für einen Klassenkameraden oder eine Klassenkameradin das Leben im Jahre 2015 ausgemalt haben, zeigen Unsicherheit auf hohem Niveau. Alle rechnen mit einer qualifizierten Ausbildung; Berufstätigkeit, evt. Teilzeitbeschäftigung auch von Frauen mit kleinen Kindern ist ihnen ein selbstverständlicher Wunsch. Sie stellen sich vor, ein schönes Haus oder wenigstens eine großzügig geschnittene Wohnung zu besitzen und trotz vielfältiger beruflicher und familiärer Verpflichtungen Zeit für Sport, Hobbies und Geselligkeit zu haben.

Dabei glauben sie, mit verhältnismäßig wenig Geld auskommen zu können. Sie haben in ihrer Vorstellung Eheoder unverheiratet Lebensabschnittspartner und fast ausnahmslos mehrere Kinder. Gewisse Sorgen macht ihnen der Arbeitsplatzmangel; sie rechnen durchaus mit vorübergehender Arbeitslosigkeit des einen Partners, mit beruflicher Umorientierung, mit Leben und Arbeiten im Ausland. Damit passen die Schülerinnen und Schüler in das Bild, das in den Medien von der jungen Generation gezeichnet wird: „Sie trinken Champagner und Leitungswasser. Sie streiten für ökologische Ernährung und stehen Schlange bei Aldi. Sie sind jung und wollen Anerkennung, aber für ihr Leben. Sie wollen Erfolg, aber zu ihren Bedingungen. Sie lieben ihre Eltern, weil sie wie die nie leben werden... (Sie) ...wissen genau, was richtig ist. Sie haben aber kein Problem, sich auch ganz anders zu verhalten. Sie sind voll engagiert und zugleich 100 Prozent politikverdrossen.

Sie sind antiautoritär erzogen worden und mußten ständig machen, was sie wollten. Ihre Generation hat sich den verdeckten Egoismus ihrer Eltern groß auf die Fahnen geschrieben und das ‚Ich‘ zum Gesamtkunstwerk erklärt 3und zur ganz privaten Großbaustelle.... Die kommende Generation hat das Ich als Konstrukt erkannt und seinen Aufund Ausbau zur Hauptsache erklärt. Voll beschäftigt damit, wird ihr das alltägliche Chaos zum Fundus und zur Probebühne für alle möglichen Entwürfe und Baustufen. Als Ich-Bastler können ... (sie) mit Fertigmodellen nichts anfangen. ... (Sie) pflegen... einen globalen Freundeskreis und wursteln sich durch den Alltag mit ihren jeweiligen Partnern. Sie legen sich ungern fest, kommen schwer auf den Punkt und werden garantiert nie wirklich fertig. Sie jobben in der Videothek, auf Tankstellen und in Schnellimbissen, servieren in Biergärten und Szenekneipen, verdienen ihr Geld als Familienhelfer und Postsortierer. Sie pendeln zwischen den verschiedensten Studiengängen und landen abgebrochen, halbfertig, aber total flexibel bei Computerfirmen, Werbeagenturen und anderen Jungunternehmen. ...

Groß geworden im Schatten von Atomkriegsgefahr und Umweltkatastrophe, hat sich das Thema ‚Lebensabend‘ für sie gründlich erledigt. Unter Zukunft verstehen sie die nächsten drei Monate. Eigenheim, Bausparvertrag und Rente reizen sie nicht. Der Abschluß einer Ausbildung bringt ihnen keinen Erfolg, sondern Probleme, weil er zur sofortigen Kündigung aller bisherigen Vergünstigungen führt. Sie sparen nicht fürs Alter, sondern geben ihr Geld jetzt aus. Sie haben keine Angst vor dem sozialen Abstieg, weil sie es sich zwischen oben und unten gutgehen lassen. Während eine ganze Generation von Eltern und Großeltern sich in ihrer Welt nicht mehr zurechtfindet und Jugend zum Lebensgefühl und zur Orientierung erhebt, bescheinigt sie ihren Jugendlichen Orientierungslosigkeit.

Orientieren steht im Stammbuch der Wörter zwischen Orgie und Original. Die tugendhaft Orientierungslosen stehen zwischen verwildernden Lebenswerten und dem klaren 4 Anspruch auf Selbstentfaltung. Indem sie das Chaos der Werte zulassen und für sich immer neu ordnen, geraten sie zwischen Außenund Innenorientierung... Während ihre Ernährer und Erzieher mit aller Kraft jung und orientiert zu bleiben versuchen, spielen die 18bis 35jährigen in den immer schneller veraltenden Verhältnissen einfach mit...” 3 Die jungen Leute der neunziger Jahre bieten ein facettenreiches Erscheinungsbild. Sie leben nicht nur ich-bezogen in den Tag hinein, sondern als „tugendhaft Orientierungslose” engagieren sie sich durchaus aus welchen Motiven auch immer, weil es Spaß macht, auch Anerkennung bringt, weil sie wie Martin Luther, selbst wenn die Welt morgen unterginge, heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen möchten, weil für sie das „Prinzip Verantwortung” (Hans Jonas) etwas gilt.

Um das Engagement der Schülerinnen und Schüler dieser Schule zu belegen, hat der Schulleiter des GIW zusammengestellt, über welche Aktivitäten die Neue Osnabrücker Zeitung u.a. in den letzten zehn Jahren berichtet hat: Zum Thema „Interesse an Politik oder Politikverdrossenheit” haben sich im Herbst 1997 Schülerinnen und Schüler einer Klasse 11 des GIW geäußert: „Ich interessiere mich NOZ vom 22.09.94NOZ vom 16.09.94 NOZ vom 09.12.95: Teilnahme am Projekt des Netzwerkes Niedersachsen und der Zukunftswerkstatt zumKlimaschutz ONS vom 13.07.97 NOZ vom 28.09.95 NOZ vom 11.06.96 NOZ vom 23.12.94: „Schüler helfen leben” Hilfsaktion der Osnabrücker Regionalgruppe (unter starker Beteiligung des Gymnasiums „In der Wüste”) wird vom Land Niedersachsen ausgezeichnet NOZ vom 15.12.94 5NOZ vom 28.09.91 NOZ vom 16.12.95 NOZ vom 02.02.93 NOZ vom 27.09.97: „Sponsorenlauf am Gymnasium „In der Wüste”” Schüler laufen und sammeln Gelder zur Unterstützung der Behindertenwerkstatt in Twer und zur Verschönerung der Schule” Bei dieser Aktion kam ein auch von größten Optimisten nicht für möglich gehaltener Betrag von nahezu 40.000 DM herein, der zur Hälfte der Patenschaft für Twer gestiftet wurde.” NOZ vom 24.11.88: „Hilfe für Indien Ein privates Entwicklungshil feprojekt, das sich den Aufbau einer Mädchenmittelschule zum Ziel gesetzt hat, wollen die Schülerinnen und Schüler unterstützen” NOZ 10.05.97 6für Politik, weil Desinteresse doch zu einer selbstgewählten Unmündigkeit führt” (Oscar Morris). „Ich persönlich würde mich eigentlich nicht als politikverdrossen bezeichnen, da es mich schon interessiert, was in der Politik geschieht. Ich würde mich eher als politikerverdrossen bezeichnen, weil viele unserer Politiker sich durch ihr Handeln teilweise sehr unglaubwürdig machen” (Victoria Gorontzi).

„Die Frage, ob ich mich für Politik interessiere, kann ich nicht so leicht beantworten. Obwohl ich versuche, wenigstens halbwegs informiert zu sein, kommt es mir oft so vor, als könnte ich nur von außen zusehen. ...Viele, die einer Partei angehören, lassen sich davon so begeistern, daß sie auch in fast jedem Punkt mit deren Meinung übereinstimmen. Das kann ich schwer verstehen, denn meistens kann ich auch bei unterschiedlichen Meinungen etwas finden, was ich für richtig halte. Trotzdem glaube ich, es ist wichtig, daß es Menschen gibt, die einen besseren Zugang zur Politik haben, die sich für eine Richtung entscheiden können und nicht immer nur zwischen den Meinungen stehen, denn sonst würde vielleicht ein noch größeres Chaos entstehen und es würde gar nichts mehr zustande gebracht werden.” (Sonja Poppe).

Eine andere Facette!

Zwei Berichte von Laienspielern über die Arbeit der Theater-AG in den siebziger und in den neunziger Jahren. Der erste Bericht: „Von 1976 bis 1980 habe ich an der von StD Peter Koch geleiteten Theater-AG mitgewirkt, eine Arbeit, die guten Anteil an der Entwicklung meiner Persönlichkeit hatte. In dieser Zeit erarbeitete Stücke: 1977 Moliere, Die gelehrten Frauen 1978 Max Frisch, Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie 1979 George Bernard Shaw, Der Kaiser von Amerika Curt Goetz, Ingeborg 1980 Klaus Schreiber, Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (nach Luserke) Die Beteiligten haben sich mit ihrer Bereitschaft zur Teilnahme auf ein Abenteuer mit einem besonderen Rhythmus eingelassen, der etwa ein Schuljahr umfaßte. Der Ausgang ist jeweils ungewiß, der Höhepunkt wird mit den Aufführungen erreicht. Nach den Sommerferien beginnt die oft quälende Suche nach einem geeigneten Stück. Es wird gelesen, probiert, abgestimmt, bis sich schließlich ein Konsens herausschält. Die ersten Leseproben führen nach und nach zur Besetzung der Rollen. Da gibt es auch harte Entscheidungen. Nun beginnt die eigentliche Arbeit: sprechen lernen auf der Bühne, nebenbei auswendig lernen. Parallel zur intensiven Arbeit an den Rollen beginnt die Erarbeitung von Bühnenbild und Kostümen. Die Aufführungstermine rücken näher: Sonderproben, Werbung, Umstellungen, der letzte Schliff.

Die letzte Woche, der Unterricht ist unwichtig, es zählt allein das Stück, der Text ist immer dabei und das Lampenfieber auch. Nie wieder mache ich das, da ist man sicher. Irgendwie geht die erste Vor-stellung über die Bühne mit vielen Pannen, die hinterher keiner bemerkt haben will. Das schönste ist der Applaus und die anschließende Feier. Weitere Vorstellungen folgen. Und beim nächsten Mal ist man dann doch wieder dabei. Mir hat die Arbeit in der Theater-AG geholfen, schlummernde Gaben zu entdecken und zu entwickeln. Dem etwas schüchternen Jungen wird etwas zugetraut, er darf spielen, bekommt eine Rolle. Ein geduldiger Pädagoge hilft, ermutigt, macht Dampf und hat viel Geduld. Die Rollen, in denen sich der Schauspieler erproben darf, werden größer und diffiziler. Eine Rolle ist dann doch zu groß, sie wird mit Anstand über die Bühne gebracht, aber die persönlichen Grenzen werden doch bewußt, auch eine wichtige Erfahrung. Schulleben als Möglichkeit. Ein Projekt wird angefaßt und 7durchgeführt mit allem, was dazu gehört. Für die Beteiligten gehören diese Erfahrungen fortan zu ihrem Leben.” 5 Aus diesem Bericht werden die Anstrengungen und Aufregungen des Theaterspielens in der Schule, die Freude an Einsatz und Erfolg deutlich erkennbar. Der Berichterstatter blickt nach etwa 20 Jahren zurück und nimmt den Bildungswert des Laienspiels auf Grund der eigenen Erfahrungen ernst.

Der Bericht über die Theaterarbeit in den neunziger Jahren setzt bei aller Übereinstimmung mit dem obigen die Akzente anders. „Von der pädagogischen Bedeutung außerunterrichtlicher Aktivitäten 8 oder Warum Hollywood nicht Lichtjahre entfernt ist Als ehemalige Mitglieder wurden wir gebeten, einen Artikel über die Theater-AG zu schreiben. Wir fragten uns, wie und warum man sich als Schüler freiwillig mehr Arbeit aufhalst und was einen dazu treibt, Mittwoch nachmittags in einer dunklen, stickigen Aula mehr oder weniger auswendig gelernte Texte aufzusagen.

Vielleicht um den Gemeinschaftssinn und die Kreativität zu fördern? Vielleicht um eine weitergehende Einweisung in die Welt der Literatur zu erhalten? Oder vielleicht um das sprachliche und körperliche Ausdrucksvermögen zu verbessern? Nein! Wir wollten wissen, ob an den Gerüchten über die wilden Parties hinter der Bühne und auf den Freizeiten etwas dran war und ob Applaus wirklich süchtig macht.

Spätestens wenn man ein Jahr dabei war, kannte man den Ablauf: Nach langen Diskussionen, einem nicht enden wollenden Auswahlverfahren fand sich ein Stück, das von der Besetzung her paßte, auf die Gruppe zugeschnitten und meist zu lang war. Abermalige Diskussionen um die Rollenverteilung gingen der Bearbeitung voraus, die allen Beteiligten Zähigkeit und Ideenreichtum abverlangte sowie starke Nerven voraussetzte. Früchte trugen die Proben aber zum Leidwesen von Herrn Knispel erst auf den heißgeliebten Freizeiten, die wenige Wochen vor der Premiere stattfanden.

Doch ohne Herrn Heiny und Herrn Ahlborn wäre das Finale zu einem Fiasko geworden; Bernward Heinys künstlerische Auseinandersetzung mit den Stücken und sein kreatives Umsetzen der daraus resultierenden Ideen waren mehr als nur Hintergrund und Dekoration. Auch „Ali” machte Überstunden, damit wir nicht ohne Geräuschkulisse im Dunkeln standen. Zusammen mit vielen freiwilligen Helfern sorgten sie dafür, daß die Voraussetzungen für eine gelungene schauspielerische Darbietung geschaffen wurden Eine Folge waren zumeist positive Schlag-zeilen und Werbung in der Zeitung. Der Beifall eines großen Publikums (wir bildeten uns ein, daß es nicht nur Eltern und Freunde waren) belohnte uns für harte Arbeit und motivierte zum Weitermachen.

Das Programm war über die Jahre abwechslungsreich und bot alles, vom Drama bis zur Komödie. Unter anderem war man mit Arthur Millers „Hexenjagd” Hollywood um Jahre voraus. „Die Passage” (Christoph Hein) verwirrte die Kritiker, „Die Physiker” (Dürrenmatt) glänzten nicht zuletzt durch die Kostüme, die ‘Fetzentechnik’ der „Soldaten” (Lenz) war schon fast professionell, und Agatha Christies „Mord an Bord” enthielt für manchen eine tödliche Dosis. Herr Knispel hat glücklicherweise nie geglaubt, „daß man von Brot und Wasser allein leben könnte” (Die Soldaten), er hielt es mit dem Satz: „Ein Schlückchen Wein ist immer sehr magenfreundlich” (Mord an Bord). Doch wir wollen nicht alles erzählen, „der gewaltige Rest bleibt Geheimnis, dem Verstande unzugänglich (Die Physiker)...” 6 Die Berichterstatter kannten den jeweils anderen Text nicht, und doch schrieben sie übereinstimmend von den Anstrengungen der Vorarbeiten und den Freuden des Erfolges.

Über den Bildungsgehalt des Laienspiels können indes die „Neunziger” nicht ernsthaft, sondern nur ironisch, d.h. in ‘uneigentlichen Aussagen’ sprechen. Sie führen entsprechende Motive in rhetorischen Fragen an, weisen sie dann mit einem energischen „Nein” entschieden zurück und nennen als ihre „Erkenntnisinteressen” die Erhärtung von „Gerüchten über wilde Parties hinter der Bühne und auf den Freizeiten” und die Antwort auf die Frage, „ob Applaus wirklich süchtig macht”. Beides können sie bestätigen. Ihre unverblümte Freude an „Orgien” und an der Selbstdarstellung weist sie als Kinder der neunziger Jahre aus. Als Jugend in der „Spaßgesellschaft” stellen sie sich dar, doch würden sie mißverstanden, wollte man annehmen, sie machten es sich leicht.

Carpe diem! Dieses lateinische Zitat haben zwei der befragten Schülerinnen und Schüler als ihr Motto genannt. Es stammt aus der Ode I 11 des römischen Dichters Horaz (65-8 v.Chr.), der damit in der Nachfolge des griechischen Philosophen Epikur (341-270) steht. Beiden gemeinsam war, daß sie in unruhigen Zeiten, nach Kriegen, von denen sie persönlich betroffen waren, einen Strukturwandel erlebten, Epikur die Entstehung der Diadochenreiche nach dem Tod Alexanders des Großen und Horaz die Errichtung des Prinzipats unter seinem Förderer Augustus. Beiden gemeinsam war verständlicherweise der Wunsch nach einem Leben in Angstfreiheit und beschaulicher Ruhe für philosophische bzw. poetische Produktion; beide suchten Sicherheit durch die Verbindung mit gleichgesinnten Freunden und Unabhängigkeit.

Carpe diem! Pflücke den Tag! Genieße den Tag! Erfülle den Tag! Mache etwas aus dem Tag, nimm ihn wichtig hier und jetzt, nicht im Hinblick auf eine ungewisse Zukunft! so etwa die Übersetzungsund Deutungsmöglichkeiten. In den strukturell unsicheren Zeiten der neunziger Jahre dieses Jahrhunderts scheint die junge Generation dem Typus des Epikureers nahezukommen, ohne daß sie sich bewußt an diesem Leitbild orientierte.

Anmerkungen 1 Horaz, carmen I 11 2 Fritz Graßhoff, Die klassische kenpostille, dtv 1967, S. 73 Halun 910

pdfFestschriftsauszug 1990er Jahre305.78 KB

  1. Start
  2. 1990er Jahre