1933-1945

Christa Maria Gottfried 

Schule in der NS-Zeit - kaum Opposition -

Einführung 

Obwohl das Jahr 1933 mit der Errichtung der NS-Diktatur in Deutschland politisch einen gewaltigen, alles verändernden Einbruch mit sich brachte, lief das Leben in dem Städtischen Oberlyzeum am Wall ohne äußerlich erkennbare Brüche weiter. Die Schule hatte 522 Schülerinnen, die mit neusprachlichem Schwerpunkt unterrichtet wurden. 

Das Kollegium bestand aus etwa 30 Lehrenden. Überwiegend waren es Frauen, wie dies damals in Mädchenschulen Tradition war. In den Jahresberichten ist keine Umbesetzung innerhalb der Schulleitung oder unter den Kollegen sichtbar. Es schien organisatorisch alles in den alten Bahnen weiterzulaufen, was nicht beunruhigend wirkte. Die Veränderungen gingen allmählich vor sich: mit kontinuierlich ausgegebenen Erlassen des Reichsund Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, die über die mittleren und unteren Behörden in die Verwaltungen der Schulen weitergegeben wurden und dort praktisch umgesetzt werden mußten. 

Die Partei mit ihren Jugendverbänden nahm nur langsam Einfluß auf die Schulen, so daß auch dies wie selbstverständlich aussehen konnte, waren doch viele Mädchen schon vorher in nationalen politiknahen Verbänden organisiert, die dann in NS-Organisationen überführt wurden. 

Auch der Schwerpunkt, der auf eine geschlechtsspezifisch differenziertere Mädchenbildung gelegt werden sollte, war nicht grundsätzlich fremd, und so wurde die Angliederung einer dreijährigen Frauenschule im Jahre 1935 allgemein begrüßt. Am Schölerberg 20 wurde ein Gebäude angekauft, in dem die Fächer des „Frauenschaffens“, Hauswirtschaft, Gartenarbeit, Nadelarbeit und Kinderpflege und -erziehung unterrichtet wurden, während der mehr wissenschaftlich-theoretische Unterricht im Gebäude am Wall stattfand. 

Wie mit der dann zunehmenden Faschisierung des alltäglichen Lebens – mit dem immer deutlicher werdenden ideologischen und praktischen Druck durch das Unrechtsregime – umgegangen worden ist, kann ansatzweise nur aus den Akten, deren Bestand durch die Bombardierung beider Schulen unvollständig ist, erarbeitet werden. Die Erinnerungen ehemaliger Schülerinnen und Lehrerinnen sind wegen dieser Lückenhaftigkeit, aber auch weil sie Anschaulichkeit in die überwiegend abstrakten Aktenberichte bringen, sehr wichtig. Die verändernden Maßnahmen des Regimes in der Schule sowie die Reaktionen auf diese durch Lehrende und Schüler sind Schwerpunkt der Darstellung. Dabei wird dokumentiert, daß es sowohl völlig angepaßte und zuvorkommende, also dem diktatorischen System hilfreich entgegenkommende Verhaltensweisen als auch – erwartungsgemäß geringfügige – Opposition gegen das Regime gab. 

Es muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Schulgeschichte sich seit dem Kriegsbeginn mit der Geschichte der Ursulaschule verband. Die Konfessionsschulen wurden seit 1936 trotz des Konkordats zwischen Staat und katholischer Kirche abgebaut. In die Ursulaschule durften keine neuen Schülerjahrgänge mehr aufgenommen werden. 1938 wurden alle Beamtenkinder aus den Konfessionsschulen in die städtische Mädchenschule geschickt. Ab 1939 belegte diese Schule ihrerseits die leer gewordenen Räume der Ursulaschule. Dort wurde 1940 die zweite Oberschule für Mädchen, sprachlicher Zweig, Kleine Domsfreiheit errichtet. Ein Teil der Kollegen zog mit um, bekam aber 1942 einen eigenen Direktor, womit die organisatorische und auch eine gewisse geistige Selbständigkeit garantiert war.

Verwirrend kann die Namensgleichheit von zwei Direktoren in der Schule am Wall sein: Sie hießen beide Gerlach. Bis 1934 war es Dr. Ludwig Gerlach, der die Schule schonseit 1912 geleitet hatte und nun während seiner letzten beiden Dienstjahre unter dem NS-Regime weiterarbeitete. Bis zur endgültigen Neubesetzung der Stelle vergingen etwa drei Jahre. Dann übernahm der Parteigenosse Walter Gerlach die Leitung der Schule bis zum Kriegsende. Deren Standort wurde umbenannt in „Braunauer Wall“. 

1. Hoffnungen auf eine neue Zeit 

Bevor noch das „Dritte Reich“ im Januar 1933 errichtet worden war, beherrschte eine von der Weimarer Demokratie wegführende Aufbruchsstimmung, die weite Teile der deutschen Bevölkerung ergriffen hatte, auch viele Schülerinnen und große Teile der Lehrerinnen und Lehrer der Schule. In den ersten Jahren nach der Machtübergabe an den Diktator wuchs die freudige Stimmung zu gewaltiger Begeisterung für das NS-Regime an. Zur Dokumentation dieser Vorgänge sind innerhalb der Schulakten aus dieser Zeit die „Bildungsgänge“, das waren erweiterte Lebensläufe, die von den Abiturientinnen etwa ein halbes Jahr vor der Prüfung mit der Meldung zum Abitur abgegeben werden mußten, aufschlußreiche Quellen. Sie geben wichtige Hinweise auf soziale, kulturelle und politische Denkstrukturen der Zeit und vermitteln die Ideen, die von Elternhaus und Schule auf die Schülerinnen einwirkten. 

In fast allen Bildungsgängen vom November 1932 schon zeigt sich die freudige Erwartung auf etwas Neues, Besseres, das für die Zukunft bestimmend sein sollte. Manche Schülerinnen leiteten ihre Vorstellungen aus historisch Gelerntem ab: Aus bestimmten Geschehnissen früherer Epochen wurde eine Art Utopie hergestellt, die die Züge der erwarteten Zukunft tragen sollte. Da ist z. B. zu lesen: „In Geschichte haben die (...) freiheitlichen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf mich einen tiefen Eindruck gemacht.“ 1 Was genau mit dem historischen Hinweis gemeint ist, kann aus dem Kontext ermittelt werden: nicht die bürgerliche Freiheitsbewegung, die in der Revolution von 1848/49 einen liberalen Verfassungsstaat erreichen wollte, sondern die Befreiung von napoleonischer Vorherrschaft in den deutschen Staaten, dann die Einigung Deutschlands unter Bismarcks Regie, also die nationalstaatliche Bewegung. Sie spiegelt das während der Weimarer Zeit von vielen erhoffte Ziel: die Wiederherstellung des großdeutschen Reiches. Als Voraussetzung dafür wurde die Unabhängigkeit von den Bestimmungen des Versailler Vertrages und auch von der Form der Weimarer Demokratie für dringend erforderlich angesehen. Deutlich weist auch eine Stelle aus einem Bildungsgang aus dem Jahre 1934 in diese Richtung: „Je mehr ich mich mit der deutschen Vergangenheit beschäftigte, umso unverständlicher wurde mir die Zeit der letzten vierzehn Jahre.“ Deutschlands Größe wurde mit der Kaiserzeit in Verbindung gebracht und aus einer glorifizierten nationalen Vergangenheit hergeleitet. 

Die Ablehnung der Weimarer Demokratie wurde häufig durch den Hinweis auf soziale Probleme begründet. Ende des Jahres 1932 schreibt eine Schülerin: „Die schwere wirtschaftliche und unruhige politische Notlage unseres Volkes ist besonders in der letzten Zeit nicht ohne Einfluß auf mich geblieben. Wenn mir manchmal die Ohnmacht des deutschen Reiches gegenüber fremden Mächten zum Bewußtsein kommt, so ist es einzig die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die mich wieder froh macht.“ Und ein Jahr später, Ende 1933, schreibt eine andere: „Ich gehöre in die Generation derer, die die Kriegsfolgen unmittelbar erlebt haben. Ich weiß von der schweren Arbeit unserer Väter, die mit aller Anspannung versuchen, die schlimmste Not von ihrer Familie fernzuhalten. Nun gibt uns heute die neue Regierung Hoffnung auf Besserung. Das Nahen und Hereinbrechen einer neuen Zeit ist nicht spurlos an mir vorübergegangen, ich habe daran teilgenommen und die großen Augenblicke der Wendung mit Bewußtsein miterlebt.“ 

Der „Führer“ Adolf Hitler wurde fast immer als Heilsbringer mit den Hoffnungsvorstellungen in Verbindung gebracht, z. B. auf folgende Weise: „Durch meine Mutter wurde mein Interesse für das Leben unseres Volkes geweckt. (Sie erklärte mir), daß ich nur ein kleines, verantwortliches Glied in der unendlichen Geschlechterkette unseres Volkes bin. Schon früh hörte ich zu Hause den Namen Adolf Hitlers. 1932 trat ich in eine Mädelgruppe ein. Ostern desselben Jahres machte ich (...) eine Reise nach München und durfte dort im Casino des ‚Braunen Hauses‘ dem Führer gegenüberstehen. Als seine stahlblauen Augen auf mir ruhten, fühlte ich, diesem Mann und seiner Bewegung bin ich verschworen fürs ganze Leben.“ Oder: „In den letzten Jahren meiner Schulzeit begann das Erwachen der deutschen Nation. Auch ich wurde wie so viele andere von der mächtigen Welle der nationalsozialistischen Bewegung erfaßt. Waren mir doch die Ideen unseres heutigen Reichsund Volkskanzlers nicht etwas ganz Neues, da meine Schwester und ich von Jugend an in dieser Gedankenwelt aufgewachsen waren! Schon seit 25 Jahren ziert unser Wohnzimmer ein großes eichenes Hakenkreuz. So kam es, daß ich mich schon früh für das Wiedererwachen meines Vaterlandes begeisterte. (...) Ich trat in den nationalsozialistischen Schülerbund ein und wurde nach seiner Auflösung in den B.D.M. übernommen.“ Leicht ist hieraus auch zu erkennen, daß eine demokratisch parlamentarische Regierungsform als nicht erwünscht angesehen wurde. 

In vielen Berichten wird die Größe des eigenen Volkes geradezu beschworen: „Mit Stolz und Freude glaubte ich die großen Eigenschaften des deutschen Volkes zu erkennen, die es zu Höhepunkten in seiner Entwicklung führten, seinen heldenhaften Mut, seine körperliche wie geistige Kraft und Ausdauer, seine Wahrheitsliebe, sein Streben nach allem Edlen und Guten.“ Dieser Schülerin war allerdings auch klar, daß ihr Vaterland „schlimme Schwächen“ hat, nämlich „Uneinigkeit und Mangel an politischer Übersicht“, wogegen nur die „Leistungen einzelner, überragender Persönlichkeiten, die die große Masse durch den Schwung ihres überlegenen Geistes mit sich fortreißen“, helfen könnten.

Nach einem Jahr nationalsozialistischer Herrschaft schlägt sich der Jubel einer Abiturientin in folgender Frage nieder: „Muß es nicht jeden Menschen mit Begeisterung und Stolz erfüllen, daß Deutschland wieder geeint und in Ehren dasteht und das ganze Volk voll Hoffnung und Vertrauen auf seinen Führer blickt?“ 8 Was gemeint sein könnte, ist, auf die politischenEreignisse bezogen, nur vage zu erschließen. Deutlich aber ist: Der Aufbau der Diktatur in Zusammenhang mit zunehmendem Terror wurde im „Vertrauen auf den Führer“ ignoriert. Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und aus der Abrüstungskonferenz im Oktober 1933 wurden offenbar als Wiederherstellung der Ehre des Vaterlandes verstanden. Politisch realistische Vorstellungen waren vermutlich durch zu lang andauernde soziale Leiden, durch den Erfolg der Propaganda oder eine wirklichkeitsblinde Euphorie verschüttet. 

1933 45 4 1Schon früh verbinden sich mit diesen Ideen auch antisemitische Feindseligkeiten. Ende 1933 berichtet eine Schülerin: „Da ich stets im nationalsozialistischen Geist erzogen war, haßte ich alles Undeutsche. So wehrte ich mich entschieden, als 1930 an der Schule eine jüdische Mitschülerin ein Weihnachtsmärchen leiten sollte. Mir wurde zum erstenmal bewußt, daß man rückhaltlos für seine Überzeugung eintreten muß, wenn man diese durchsetzen will.“ 9 Offenbar hatte sie aufgrund der in der Gesellschaft vorhandenen antisemitischen Strömungen mit einem solchen Angriff in der Schule Erfolg. Eine andere schreibt rückblickend, sie habe nur gegen einen einzigen Menschen schon in ihrer frühen Kindheit einen unüberwindlichen Abscheu entwickelt, das sei „ein alter, krummer Jude“ gewesen, der im Dorf mit Kurzwaren handelte. So als gäbe es ein im „völkischen Wesen“ verankertes instinktives und dadurch legitimes Abwehrgefühl, beschreibt die Schülerin eine Angst, die sie zurückschrecken ließ, und behauptet einen „dauerhaften Abscheu“, den diese „Rasse“ in ihr bewirkt habe, in sich zu tragen.

1933 45 4 2Nur in sehr wenigen Bildungsgängen der Jahre 1932/33 ist von solchen politischen Aufbruchsideen und tradierten Ideologien nichts zu lesen. In ihnen gibt es eine Beschränkung etwa auf die kulturellen Einflüsse des Elternhauses auf den Gebieten Literatur, Musik, Kunst, Natur, Religion, Reisen und Sport oder einfach auf die eher seltene Tatsache, daß sie eine glückliche Kindheit in ihrer Familie und eine Schulzeit mit freundlichen Lehrerinnen und Lehrern gehabt hätten. Ihre Mitgliedschaft in kirchlichen Jugendverbänden oder Wandervereinen, allenfalls noch im Luisenbund und im VDA wird erwähnt. 

Die Schulleitung verhielt sich während der Übergangszeit von der Republik zur Diktatur scheinbar neutral gegenüber der einen oder anderen poltischen Einstellung.

"... daß sämtliche Konferenzen in Zukunft nur noch beratende Befugnisse haben ..."

In den Gutachten zur Erreichung der Hochschulreife ist jedoch ab 1933 vom Direktor vermerkt, in welchen politischen Verbänden die Abiturientinnen sind oder wie ihre Einstellung zum NS-Staat ist, z. B. schreibt Dr. Ludwig Gerlach 1934: „Von starkem sozialen Empfinden erfüllt, gehört die Antragstellerin seit ihrem 12. Lebensjahre dem Bund der Königin Luise an; sie ist ebenfalls Mitglied des VDA. Sie ist ein durchaus zuverlässiger, besonders auch politisch durchaus einwandfreier, nationalsozialistisch durchglühter Mensch. Die Erteilung des Zeugnisses der Hochschulreife wird besonders empfohlen.“ 13 Aus solchen Äußerungen ist mindestens eine starke Sympathie der Diktatur gegenüber, wie sie generell den Gymnasiallehrerinnen und –lehrern zugeordnet wird, erkennbar. Zum Vergleich: Über die beiden jüdischen Abiturientinnen, Elfriede Katzmann und Grete Falk, wird im Gutachten von 1934 lediglich geäußert, sie wollten an der Errichtung des Siedlungswerks in Palästina mitarbeiten, 14 strebten also kein Studium in Deutschland an, was beides den Wünschen der meisten deutschen Bildungsbürger entsprach. 

2. Die Entmachtung von Lehrern, Lehrerinnen, Eltern und Schülerinnen 

Es geht um die Machtstrukturen, die in der Schule parallel zu denen innerhalb des Gesamtreiches gestaltet werden sollten. Wichtig war, die Rolle des Schulleiters als „Führer in seiner Schule“ unbehelligt von allen demokratisierenden Einschränkungen, die sich während der Weimarer Zeit durchgesetzt hatten, sicherzustellen. Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Bernhard Rust erließ am 9.12.1933 eine neue „Konferenzordnung für höhere Schulen“, die vom Oberpräsidenten der Provinz Hannover an den Leiter der Schule Dr. Ludwig Gerlach weitergeleitet wurde. Sie hat folgenden Wort6 laut: „Da der Direktor seiner vorgesetzten Behörde für den nationalsozialistischen Geist und die Leistungen seiner Schule verantwortlich ist, geht es nicht an, daß die von ihm für notwendig erachteten Maßnahmen wie bisher zum großen Teil von wechselnden Mehrheitsbeschlüssen der Lehrerschaft abhängig gemacht werden. Ich ordne daher unter Aufhebung aller entgegenstehenden Bestimmungen oder darüber hinausgehenden Bestimmungen an, daß sämtliche Konferenzen in Zukunft nur noch beratende Befugnisse haben und daß die bisher den Konferenzen zugewiesenen Entscheidungen fortan der Direktor trifft, soweit nicht rechtliche Bindungen dem entgegenstehen.“

Man denkt an Hitlers grundsätzliche Ablehnung von demokratischen Mehrheitsbeschlüssen; sie war von ihm damit begründet worden, daß nur ein „genialer Führer“ unabhängig von den „nur zufällig“ entstehenden rein „quantitativen Beschlüssen“ einer „unbegabten Masse“ für das Wohl des Volkes verantwortlich sein könne. 16 Das Führerprinzip führte in der Schule zu unendlich öden Konferenzen, die im wesentlichen darin bestanden, daß ein entmündigtes Kollegium zum Anhören von nationalsozialistischen Verfügungen und Erlassen sowie zu deren Interpretation durch den Direktor oder einen von ihm vorher bestimmten Referenten gebracht wurde. Keine wirklich pädagogische Diskussion ist in den Protokollen verzeichnet, aber es gibt einige angepaßte Fragen, z. B. ob man denn richtig handele, wenn man Goethes „Iphigenie“ noch im Unterricht bespreche. Darüber hinaus muß viel sprachlose Zustimmung oder Nischenmentalität vermutet werden. 17 In den Jahren nach 1937, als der sehr überzeugte Nationalsozialist Walter Gerlach die Schule leitete, ist das Führerprinzip äußerst intensiv und extensiv angewandt worden, z. B. zur ideologischen Überwachung der Gesinnung der Kollegen und des Unterrichts besonders der Biologieunterricht war davon betroffen – durchÜberprüfung der Inhalte von Deutschaufsätzen, durch Strafaktionen gegenüber Schülerinnen oder Lehrkräften, die unangepaßte Äußerungen gemacht hatten: Walter Gerlach habe sich wie Hitler persönlich, ausgestattet mit angsterregender Herrschaftsgewalt und unterstützt von der Partei, in der Schule aufgeführt, wird von fast allen ehemaligen Schülerinnen, die wir gesprochen haben, berichtet. 

Die Entdemokratisierung wurde 1934 mit der Entmachtung der Elternbeiräte, genau genommen, mit der weitgehenden Entmündigung aller Eltern fortgesetzt. Während für das Schuljahr 1931/32 noch ein sehr aktiver Elternbeirat, der sich mit dem Entwurf einer neuen Schulordnung kritisch auseinandersetzte und die Lehrer mit Fragen nach dem Unterricht in die Diskussion zog, vorgestellt wird, 18 ist aus dem Jahr 1934 ein grotesk anmutender Vorgang festgehalten: Der Direktor Dr. Gerlach oder aber sein Stellvertreter Oberstudienrat Barner lud Anfang des Jahres 1934 die noch demokratisch gewählten Elternvertreter zu einem Konzertabend ein. Das Konzertprogramm ist nicht erhalten, statt dessen eine etwa 20-minütige Rede des Schulleiters. Die Versammelten wurden – sehr ungewohnt – als „Vertreter der Schulgemeinde“ angesprochen. Was das wohlklingende Wort zu bedeuten habe, wurde ihnen gleich darauf erklärt. Aufgrund einer Verordnung des Reichserziehungsministers sollten in Zukunft die Elternbeiräte aufgehoben und durch „Schulgemeinden“ ersetzt werden. Ziel dieser Einrichtung sei es, „die Elternschaft mit den staatlichen Erziehungsgrundsätzen und Absichten, die durch die Staatsjugend verwirklicht werden sollen, vertraut zu machen und ihr erzieherisches Wollen damit in Einklang zu bringen.“ Es gebe nun einen „Gesamt-Jugenderziehungsplan des Staates“, an dem Schule, Elternhaus und Hitler-Jugend in gemeinsamer Verantwortung mitwirken sollten. Es gibt kein Protokoll, man muß aber vermuten, daß Schweigen über diese ungeheure Zumutung unter den Elternvertretern herrschte. Das konnte zwei Gründe haben: die Wirkung des öffentlichen Terrors oder aber auch die Tatsache, daß in weiten Teilen des Bürgertums der Schrecken über die totalitäre Diktatur noch gar nicht entstanden war.Der Direktor fuhr wie selbstverständlich mit der Verdeutlichung eines neuen verbindlichen Erziehungsziels fort, nämlich „in unermüdlicher, anhaltender, ausdauernder Arbeit die jungen Menschenkinder, die uns gemeinsam anvertraut sind, zu bilden und zu erziehen, daß sie einst wahrhafte Staatsbürgerinnen und aufrechte Frauen im Dritten Reich werden.“ Daß in diesem Regime keine Schülerin ihre eigenen Lebensvorstellungen unabhängig von staatlicher Einflußnahme ganz individuell verwirklichen können würde, verdeutlicht der folgende Teil der Ausführungen des Direktors. Der Redner zitierte den Reichsjugendführer Baldur von Schirach: „Die Generation, die einmal an der deutschen Zukunft mitgestalten will, braucht heroische Frauen (...) Der B.D.M. soll die stolzen und edlen Frauen hervorbringen, die im Bewußtsein ihres höchsten Wertes nur dem Ebenbürtigen gehören sollen. Das Mädchen soll (...) seiner kommenden Bestimmung als Mutter neuer Geschlechter frei entgegengehen.“ Eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule, der Partei und dem B.D.M. wird als selbstverständlich vorausgesetzt, wobei die Unterund Überordnungsverhältnisse interessant sind. Diese werden in der Art der Berufung und Zusammensetzung der „Schulgemeinde“ deutlich: „Führer der Schulgemeinschaft ist der Leiter der Anstalt, (...) er beruft aus der Elternschaft 2-3 Berater. (...) Hierzu tritt eine Vertreterin des B.D.M. (...) Vor der Berufung ist der zuständige Ortsgruppenleiter der NSDAP zu hören.“ 19 

Diskussionsbedarf war nach der Rede des Direktors nicht eingeplant, statt dessen folgte nun das angekündigte Konzert. Die engste Zusammenarbeit zwischen der Partei mit allen ihr angegliederten Organisationen, hauptsächlich den Jugendverbänden, und der Schule wird fest etabliert und stolz in jedem Jahresbericht ausführlich dargestellt und bestätigt. 

3. Die „Säuberung“ der Schule 

Seit 1920 konnte ein politisch aufmerksamer Mensch Hitlers rassistische Ideen, die nach der Machtübergabe immer radikaler geäußert und unter Zustimmung und Mitwirkung der Anhänger des Regimes praktisch umgesetzt wurden, zur Kenntnis nehmen. 1920 schon hatte der spätere Diktator in einer Rede gesagt: „Hinaus mit den Juden, die unser Volk vernichten.“ 20 In „Mein Kampf“ das Buch hatte Anfang der 30er Jahre schon massenhafte Verbreitung gefunden konnte jeder lesen, daß für Hitler die Vertreibung der Juden nicht nur eine Verpflichtung gegenüber der „arischen Rasse“ war, deren Reinerhaltung ihm als höchstes politisches Ziel galt; darüber hinaus wurde die sogenannte „jüdische Frage“ 8 von ihm zur religiösen Aufgabe hochstilisiert: „So glaube ich heute im Sinn des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ 21 Um seine Ideen für die Leser und Hörer anschaulich werden zu lassen, gebrauchte Hitler zur Bezeichnung der jüdischen Menschen die bekannten abwertenden Bilder, etwa: Der Jude sei „ein Parasit im Körper anderer Völker“, ein „Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet“, heißt es in „Mein Kampf“. 22 

Obwohl der rassistische Antisemitismus besonders im 19. Jahrhundert schon weite Verbreitung in der Bevölkerung gefunden hatte, hielten viele Deutsche den Schritt von solchen Ideen zur tatsächlichen Vernichtung der Juden zunächst noch für nicht denkbar. 

Die politische Forcierung dieser Ideen durch das bejubelte Regime brachte aber schon nach den Märzwahlen 1933 eine unerwartet große Akzeptanz gegenüber der öffentlichen Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Mitbürger in der Bevölkerung und auch in den Schulverwaltungen mit sich. Durch das „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“ vom April 1933 gerieten die Schulen verstärkt unter den Druck des Regimes. Und sie schwammen sogar äußerst angepaßt im Strom des jetzt sehr aggressiven Antisemitismus mit. Im Dezember 1933 konnte eine Abiturientin jüdischen Glaubens zwar in ihrem Bildungsgang zum Abitur noch voller Selbstbewußtsein schreiben: „Zu dieser Welt meines Elternhauses gehörten Liebe und Vertrautsein und eine tief religiöse, von Verehrung für das Judentum erfüllte Stimmung, ein stolzes Bejahen des jüdischen Schicksals“, ohne dadurch ihr Abitur zu gefährden. 23 Man rechnete damit, daß sie ohnehin nicht in Deutschland studieren werde, und ließ sie in Ruhe. Das Gesetz bestimmte aber, daß die Zahl von Schülern „israelischen“ Glaubens in den Schulen höchstens 5%betragen dürfe; bei Neuaufnahmen von Beginn des Schuljahres 1934 an sollte sie auf 1,5% heruntergefahren werden. Das Oberlyzeum hatte im Schuljahr 1930/31 13 jüdische Schülerinnen bei einer Gesamtschülerzahl von 539. Im Mai 1933 gab es noch 10 von 522, im Mai 1934 nur noch 5 von 484 Schülerinnen. 24 

Es ist für die Mehrzahl der Fälle nicht nachweisbar, auf welche Weise die Verminderung der Zahl der jüdischen Schülerinnen im einzelnen geschah und welche Rolle das antisemitische Gesamtklima, der Direktor, das Kollegium oder sogar Mitschülerinen dabei spielten. Nur über zwei jüdische Mädchen konnte Genaueres ermittelt werden. Der Direktor Dr. Gerlach bemerkte, daß er zum Ostertermin 1933 einige jüdische Mädchen zuviel aufgenommen hatte, und suchte, offenbar in pünktlichem Gehorsam dem neuen Regime gegenüber, nach einer Möglichkeit, diesen „Fehler“ zu korrigieren. Er schrieb an den Rechtsanwalt Dr. Netheim und den Kaufmann Weinberg in Osnabrück den oben abgebildeten Brief. 25 

Die Verhandlungen zwischen den Eltern und dem Direktor sind nicht überliefert; möglicherweise erhielt aber auch hier die von Hindenburg ausgehandelte Sonderregelung Geltung, wonach Kinder von jüdischen Vätern, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, nicht mitgezählt werden sollten. Ilse Weinberg und Marianne Netheim wurde der Schulbesuch erlaubt. In den folgenden Jahren gingen aber alle jüdischen Mädchen, die nicht unter die Sonderregelung fielen, nach und nach, ohne daß ein Briefwechsel mit der Schule darüber geführt oder erhalten ist, von der Schule ab. Es blieben sogenannte „Halbund Vierteljüdinnen“, nach deren Zahl auch ab und zu von seiten des Oberbürgermeisters gefragt wurde, worauf dieser aber eine gesetzesgerechte abweisende Antwort erhielt. 

Über das Verhältnis, das die Mädchen zu ihren jüdischen Mitschülerinnen herstellten, gibt ein Interview mit einer Zeitzeugin Hinweise. Sie berichtete im Jahr 1997: „Ich wurde im Jahre 1932 eingeschult. Als wir am ersten Schultag noch eine Zeitlang draußen warteten, sprach meine Mutter zwei Mädchen, die bei uns standen, an und fragte sie, aus welcher Schule sie denn kämen. Sie seien vorher in der jüdischen Schule gewesen, antworteten die beiden. Das waren Hannelore Fröhlich und Ilse Weinberg, die dann meine Mitschülerinnen wurden. Auf dem Klassenfoto, das etwa 1934 entstanden sein dürfte, sieht man sie zwischen uns anderen sitzen. Unser Kontakt mit ihnen war ganz normal. Sie interessierten sich auch für unsere Sachen, für das, was wir an den für den Jungmädeldienst freigestellten Samstagen machten. Davon waren sie natürlich ausgeschlossen. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir sie sonst irgendwann ausgeschlossen hätten. Aber eines Tages erzählten sie uns, daß sie in ausländische Pensionen kämen: Hannelore nach Italien und Ilse nach Holland. Wir hörten uns das ganz gespannt an und waren sogar etwas neidisch über eine solche Chance, aus der Schule weg ins Ausland zu kommen. Kurz danach waren sie nicht mehr da. Ich habe erst durch das Buch von Junk und Sellmeyer, das von der Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung der Juden in Osnabrück berichtet, über ihr weiteres Schicksal etwas erfahren.“ 26 Das genannte Buch von Junk und Sellmeyer verzeichnet: 

„Hannelore Fröhlich, geb. 23.10.1921 in Osnabrück, lebt in den USA. Der Vater Max Fröhlich, Mitinhaber der Tuchhandlung Katzmann, Fröhlich & Co, Möserstr. 43, wurde nach der Pogromnacht 1938 nach Buchenwald deportiert und mußte, um vorzeitig entlassen zu werden, mit der Familie in die USA emigrieren.“ 

Ilse Weinberg, geb. 17.6.1921 in Osnabrück, für tot erklärt nach ihrer Deportation nach Lodz. Der Vater, Otto Weinberg besaß mit seinen Brüdern am Kollegienwall 11 eine Tuchgroßhandlung. Die Familie zog im November 1938 nach Bonn, von dort wurde sie am 15. 6. 1942 nach Litzmannstadt Lodz deportiert. 27 

In der Abiturrede, die eine ehemalige Schülerin des Abiturjahrgangs 1940 zum Jubiläum nach 25 Jahren in der Schule gehalten hat, gibt es folgenden Bericht: „Auf diesem Bild sieht man noch unsere beiden jüdischen Mitschülerinnen Ilse Weinberg und Hannelore Fröhlich sitzen. Mit Ilse hatte ich den gleichen Schulweg; in der Wohnung ihrer Eltern habe ich einmal die Feier des jüdischen Freitagabends kennengelernt. Die siebenarmigen Leuchter waren angezündet, Herr Weinberg (...) las aus dem Alten Testament; danach sangen sie ihre hebräischen Lieder.“ 28 In der Rede klingt Trauer auch darüber an, daß über das „stumme Verschwinden der jüdischen Mitschülerinnen“ damals nicht gesprochen wurde. Die gleiche Zeitzeugin beklagt in ihrer Erinnerungsrede vom Jahre 1990 die Tatsache, „daß man ohne weiteres zur Kenntnis genommen hat, wie unsere jüdischen Mitschülerinnen eine nach der anderen verschwanden“, und weist darauf hin, 10 daß diese Ereignisse auch zur Schulgeschichte gehören, daß sie sich niemals tilgen lassen und vor allem nicht vergessen werden dürfen. 29 

Sicher können diese Aussagen nur sehr begrenzt etwas über den Umgang der Schülerinnen miteinander in der NS-Zeit selbst aussagen, vor allem weil die zeitliche Distanz und die persönlichen Entwicklungen der Erinnernden die Erinnerungen selbst und auch die Einschätzung des eigenen Verhaltens in der für alle schwierigen Situation verändert haben. Dennoch sind sie äußerst hilfreich als Beschreibung der erlebten Situation und durch die Art ihrer Verarbeitung. 

In diesem Rahmen ist es nicht möglich, Überlebende der Verfolgung unter den damaligen Schülerinnen aufzusuchen und zu befragen. Aber die Auswirkungen des in der Bevölkerung massiv gewachsenen Antisemitismus bezogen sich auch auf die zwar geduldeten, aber nicht wirklich integrierten „Restjüdinnen“, deren Väter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges gewesen waren, und auf sogenannte „Halbund Vierteljüdinnen“, die offiziell nicht vertrieben wurden. Ich habe Gelegenheit gehabt, mit zwei „Halbjüdinnen“, die die Schule damals besucht haben, Kontakt aufzunehmen, beide aber schwiegen angesichts der Frage, wie es ihnen diesbezüglich in der Schule ergangen sei; eine von ihnen deutete nur an, daß sie in einer Sondersituation gelebt hätte. – Auskunftsbereit aber war eine „Vierteljüdin“. Sie habe die Schule im Jahre 1938 noch vor der Pogromnacht für ein paar Monate besucht, sei dann wieder abgegangen, weil ihr schon sehr bald eine „feindselige Ablehnung“ von seiten der Mitschülerinnen entgegengeschlagen sei. Sie habe immer wieder nach Erklärungen dafür gesucht und habe schließlich die Ursache für die Ausgrenzung bei sich selbst zu finden vermeint: Mit ihr selbst sei wahrscheinlich etwas Unerklärliches nicht in Ordnung, habe sie schließlich vermutet. – Daß es sich dabei umeine unter solchen Umständen häufig vorkommende Selbststigmatisierung handelte, macht auch folgende Erinnerung deutlich: Eines Tages habe sie eine sehr hübsche, blonde, blauäugige Mitschülerin bewundernd angesehen, bis diese ihr das „Anglotzen“ verboten und sie beschimpft habe. Dafür habe sie sich wiederum selbst die Schuld gegeben. Eine der Mitschülerinnen habe beim Abschied gefragt, ob sie jetzt weggehe, weil sie so schlecht behandelt worden sei, was vermutlich zutraf, aber von ihr nicht zugegeben werden konnte, so meinte sie damals. Bis heute dauert die Verarbeitung dieser Erlebnisse an; sie vergegenwärtigt sich unter der Frage, was eigentlich damals mit ihr geschehen sei, warum sie so schwer nur unter diesen Bedingungen zu sich selbst stehen konnte. Bis heute möchte diese Interviewpartnerin nicht namentlich genannt werden. 30 

Wenn man sich genauere Orientierung über das Zustandekommen des geistigen und sozialen Klimas in der Schule in dieser Zeit verschaffen wollte, müßte man die soziale Herkunft von Lehrern und Eltern genauer analysieren. Das würde jedoch diese Untersuchungen überfordern. Möglich ist lediglich die Heranziehung allgemeiner wissenschaftlicher Ergebnisse über die politische Mentalität in den verschiedenen Schichten der Bevölkerung und deren Übertragung auf diese besondere Situation. Diesbezüglich dürfte gelten, daß die Gymnasien ganz überwiegend von Kindern aus den Oberund Mittelschichten besucht wurden, deren politische Prägung als national, auch völkisch-national, antisemitisch, antikommunistisch und antidemokratisch mit starkem Harmoniebedürfnis, dem die „Volksgemeinschaft“ dienen sollte, beschrieben wird. Die Mittelschichten ließen sich von der „Bewegung“ des Nationalsozialismus besonders intensiv begeistern und stellten die größte Zahl der Anhänger des Regimes. Gymnasiallehrer, Bildungsbürger mit Beamtenstatus, gehörten traditionsgemäß dem nationalkonservativen, allenfalls dem nationalliberalen politischen Spektrum an, was in der damaligen Zeit bedeutete, daß die Mehrheit unter ihnen alle ideologischen Versatzstücke, deren sich Hitlers ideologisches Gemenge bediente, schon seit ihrer Jugend im Kaiserreich in unterschiedlicher Verdichtung kennengelernt hatten: die völkisch-nationalen Ideen, die sich mit Sozialdarwinismus und Rassismus verbanden und die geplante kämpferische Eroberung von Lebensraum rechtfertigten, die antimodernistische Vorstellung von einem zerstörerischen Einfluß der westlichen Aufklärung mitsamt der parlamentarischen Demokratie auf die völkische Gemeinschaft. Wir müssen also davon ausgehen, daß es sich um eine Schule handelte, in der mit ganz wenigen Ausnahmen alle auf unterschiedlich intensive Weise und aus leicht unterschiedlichen Motiven heraus mit der „Bewegung“ sympathisierten oder diese aktiv unterstützten. 31 Trotzdem wurden sehr individuelle Handlungsentscheidungen im Einzelfall daraus abgeleitet, so daß sich jede Pauschalierung verbietet. 

Während über das Kollegium bis auf eine mir bekannt gewordene Ausnahme – eine Lehrerin soll eine Schülerin als „unverschämtes Judenweib“ beschimpft haben – wahrscheinlich gesagt werden kann, daß es sich gegenüber den jüdischen oder „halbjüdischen“ Schülerinnen zurückhielt, machte Direktor Walter Gerlach kein Hehl aus seiner bedrohlich antisemitischen Einstellung. Eine im Elternhaus kritisch-katholisch erzogene Schülerin berichtet über sein Verhalten am Morgen des 9.Novembers 1938, nachdem in der Nacht der Pogrom gegen die jüdischen Menschen stattgefunden hatte: „An der Schule angekommen, wurden wir vom Direktor, der seine braune Uniform trug, zu der zerstörten Synagoge kommandiert. (...) Danach kehrten wir in die Schule zurück, mußten uns in der Aula versammeln, um dort die dröhnenden Worte von Gerlach zu hören: ‚Nun endlich sind wir befreit von der Herrschaft des internationalen Judentums‘.(...) Erst zu Hause konnte ich die Spannung loswerden und weinen. Wo blieben die jüdischen Menschen? Wer half ihnen? Meine Eltern redeten über diese Vorgänge mit uns hinter geschlossenen Türen. (...)In unserer Klasse sprachen wir nicht über dieses Geschehen. Die Eltern der Mitschülerinnen hatten zu unterschiedliche politische Einstellungen. Es war besser zu schweigen.“ 32 

Die diskriminierende Suche nach jüdischen Lehrkräften begann verwaltungsmäßig mit einer Fragebogenaktion im Dezember 1933, nachdem am 7. April 1933 das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen worden war. Zunächst wurden alle Lehrenden befragt, ob sie rein arischer 12 Abstammung seien. Das Formblatt enthält unter Punkt 3a die Frage: “Stammen Sie von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern ab?“ und bezieht sich dann äußerst penibel im einzelnen auf den Namen und Vornamen, Stand und Beruf, Geburtsort, = tag, = monat und = jahr, auf Sterbeort, = tag, = monat, = jahr und auf die Konfession, auch auf eine mögliche frühere Konfession. Einbezogen wurden ebenfalls Ehepartner und Verlobte. Der Fragebogen endete mit einer Versicherungsaufforderung, die Angaben nach bestem Wissen und Gewissen gemacht zu haben, und mit der Androhung eines Dienststrafverfahrens oder fristloser Entlassung bei falschen Angaben. 33 Alle Lehrenden sollten „erfaßt“ werden. Die Nachweise mußten erbracht und vom Direktor überprüft werden. 

Im Kollegium des Schuljahres 1933/34 gab es bezüglich dieser „Erfassung“ nur ein „Problem“: Dieses brachte der Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtende Dr. Bokowski, der wegen des fehlenden Ariernachweises einer seiner Großmütter in den Verdacht geraten war, kein „reiner Arier“ zu sein, in die sonst „rein arische“ Lehrerschaft und auf den Schreibtisch des Direktors. Dr. Gerlach berichtete der Behörde darüber, er gab an, Dr. Bokowski habe sich an einen anderen Ort beworben, und schlug vor, der Schule zum Ersatz einen „charakterlich einwandfreien“ anderen Kollegen zuzuweisen, der einen mehr gefühlsbetonten Unterricht geben könne. Was an dem Betroffenen auszusetzen war, beschrieb der Direktor mit „Emotionsarmut“ und „zu starkem Intellektualismus“. 34 Damit unterstreicht der Direktor, Bokowski sei jüdischer Art, und gebraucht die damals häufig benutzte Charakterisierung für jüdische Menschen: sie seien gefühlsarm und hätten einen kalten Intellekt. Bokowski war als Lehrer während der Weimarer Zeit hoch geschätzt, gab er doch einen damals progressiv zu nennenden, sehr interessanten Arbeitsunterricht, in dem die Schülerinnen sogar schon selbst aktiv werden durften. 

Im Oktober 1935 konnte an den Oberpräsidenten gemeldet werden: „Sämtliche Lehrer und Beamte des Städtischen Oberlyzeums mit dreijähriger Frauenschule in Osnabrück sind rein arischer Abstammung.“ 35 

Das Regime wollte aber die Lehrerkollegien auch von politisch „unzuverlässigen“ Menschen gereinigt sehen. Zu diesen wurden gerechnet: Anhänger der Kommunistischen Partei oder ihrer Hilfsund Ersatzorganisationen, ebenso Anhänger der Sozialdemokratischen Partei sowie ihrer Einzelorganisationen und Mitglieder der Deutschen Friedensgesellschaft, der Liga für Menschenrechte, der Friedensliga, internationaler pazifistischer Verbände oder der Gewerkschaften. Auch nach der Mitgliedschaft in Logen und Orden wurde mit Hilfe des Fragebogens gesucht. 36 Der Direktor wurde verpflichtet, sich seine Verantwortung vor dem Volk und der deutschen Jugend vor Augen zu führen und deshalb äußerst sorgsam darüber zu wachen, daß die Fragebogenaktion, die sich jährlich wiederholte, genau, pünktlich und nicht „zu milde“ durchgeführt würde. 37 Er sollte seine Wachsamkeit aber nicht nur auf das Leben innerhalb der Schule richten, sondern auch auf mögliche Gefahren, die von außen aus Lehrerkreisen in die Schule getragen werden könnten: Zu beobachten, ob besonders von kommunistischer Seite „systematische Verhetzung“ der Schuljugend erfolge, und diese sofort zu melden gehörte zu seiner Aufgabe. Denn, so befürchtete der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Unterricht am 4.4.1933, daraus drohten der Jugend und der Volksgemeinschaft große Gefahren. 37a Dr. Gerlach konnte sich diesbezüglich beruhigend äußern. 

4. Politisch formierte Lehrerinnen und Lehrer 

Schule der 30er Jahre eine von freiheitlichen, demokratisch-pluralistischen und humanistisch-pazifistischen Wertvorstellungen gefilterte Gesellschaft zurück? Rein organisatorisch betrachtet, mag das so aussehen, vervollständigte sich der „Klärungsprozeß“ doch zusätzlich zu der oben beschriebenen Ausgliederung der Lehrerinnen und Lehrer jüdischen Glaubens durch systematischen Druck des Regimes auf die Unterrichtenden, den Organisationen beizutreten, die gleichsam zu Transmissionsriemen des Systems wurden. Als in besonderem Maße „charakterlich einwandfrei“ galten solche Lehrer und Lehrerinnen, die in der NSDAP, der SA, der Technischen Nothilfe der NSV, in den Frauenverbänden oder in sonstigen hinter der Regierung der „nationalen Erhebung“ stehenden Verbänden Mitglieder waren. Diese gäben durch ihre Haltung zu erkennen, „daß sie jederzeit ohne Vorbehalt für den nationalsozialistischen Staat eintreten würden“.

38 Etwa 25% der Lehrerinnen und Lehrer gehörten 1935 der NSDAP an. Für Erzieher war, vom Regime aus betrachtet, die Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Lehrerbund NSLB von gleichrangiger Bedeutung, denn dieser Das Kollegium 1937/38 13sollte die „große deutsche Erzieherfront“ für die Durchsetzung der politischen Weltanschauung in der Jugend werden. Bereits am 2.9.1933 konnte der Direktor feststellen: „Der Lehrkörper gehört insgesamt dem NS-Lehrerbund an.“ 39 Inwieweit Anpassung, Verunsicherung durch Druck oder weltanschauliche Überzeugung als Motiv galten, ist natürlich im einzelnen nicht auszumachen; nach außen hin konnte der Eindruck entstehen, alle seien sich einig in der Zustimmung zur Gleichschaltung.

Während solche Vorgänge wie der Verbandsbeitritt aber noch innerkollegial und mehr oder weniger freiwillig erfolgen konnten, geschah die Ablegung des neuen Diensteides unter Zwang: „Ich schwöre: Ich werde dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“ 40 Was es bedeutet, daß nun der Eid nicht mehr wie in der Demokratie auf die Verfassung, sondern auf die Person des Führers geleistet wurde, hätte sehr viel Nachdenken auslösen sollen: Die „Bewegung“ war identisch mit dem Diktator, dieser übertrug das Führerprinzip auf den Staat und begrub damit das Prinzip der Volkssouveränität endgültig. 41

5. Ideologische Beeinflussungen der Schülerinnen in Feiern und an Gedenktagen

Unter den zahlreichen Feiern, mit denen sich das Regime in das Gedächtnis der Jugend einzugraben versuchte, hatte die „Feier zur Errichtung des Dritten Reiches“ eine besondere Bedeutung. Alljährlich wurde das Ereignis der Machtübergabe an den Diktator am 30.Januar 1933 in der Schule festlich begangen. Im Mittelpunkt stand eine Festrede, die von Liedern, Gedichten und Sprüchen umrahmt und unterbrochen wurde. Die Festrede des Jahres 1935 ist in den Schulakten erhalten. Sie wurde von einer Studienrätin gehalten, die die Fächer Ge14 schichte, evangelische Religion und Deutsch in der Schule vertrat. An dem Text wird sehr deutlich, was viele Menschen in der Zeit, drei Jahre nach Errichtung der Diktatur, dachten und was alle denken sollten.

Zu Beginn vergegenwärtigt die Rednerin die Siegesfeiern, die am 30.Januar 1933 in Berlin stattgefunden hatten: „Während am Abend des 30. Januars die SA und der ‚Stahlhelm‘ Hindenburg und Hitler einen umjubelten Fackelzug brachten und 100.000 den beiden huldigten, hielt Ministerpräsident Göring eine Rede, der ich die Worte entnehme: ‚Der 30. Januar wird in der Geschichte als ein Tag bezeichnet werden, da die Nation sich wieder zurückgefunden hatte, da eine neue Nation aufbrach und abtat alles an Qual, Schmach und Schande der letzten 14 Jahre. Heute wird der Tag sein, an dem wir das Buch deutscher Geschichte der letzten Jahre der Not und Schande schließen und ein neues Kapitel beginnen, und auf diesem Kapitel wird stehen die Freiheit und die Ehre, als das Fundament des kommenden Staates‘.“ Die Studienrätin argumentiert dann nach den damals gängigen Mustern. Dunkelheit und Finsternis seien verursacht worden durch das „Versailler Diktat“, das die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg über Deutschland verhängt hätten. Es habe riesige Gebietsund Bevölkerungsverluste für das Deutsche Reich mit sich gebracht, außerdem militärische Besetzung und Kontrolle weiter Gebiete sowie untragbare Reparationsforderungen. Das „Diktat“ stelle zudem mit der „Kriegsschuldlüge“ in Artikel 231 einen unerhörten Angriff auf die deutsche Ehre dar, sei doch von den Siegermächten festgeschrieben worden, daß der Krieg den Gegnern durch den schuldhaften Angriff Deutschlands aufgezwungen worden sei. Das deutsche Volk sei dadurch in tiefe „Schmach und Schande“ gestürzt worden. Es folgt der Hinweis auf die wirtschaftliche und soziale Not in Deutschland, aber auch auf die angebliche Unfähigkeit derPolitiker in der jungen Demokratie von Weimar, eine zukunftsweisende Politik zu betreiben. Nun wird Hitler vorgestellt: Er sei der Lichtträger, der die Dunkelheit erhellt habe, eine außergewöhnliche Persönlichkeit, mit „Zähigkeit und Ausdauer, Umsicht und Klugheit, Entschlußkraft und mitreißender Begeisterung“ ausgestattet; besonders hervorgehoben wird seine „glühende Liebe zu Volk und Vaterland“. Seine besondere Idee – der Nationalismus – müsse nun in der deutschen Kultur wieder zum Tragen kommen: „In Theater und Film, Literatur und Malerei und Baukunst, in Schule und Universität sollen die Grundsätze von Rasse und Gesundheit, Volkstum und völkischer Arteigenheit, Sauberkeit, Schlichtheit, wahrhaft künstlerischem Erleben“ wieder sichtbar werden.

Schon innerhalb der kurzen Zeit von drei Jahren sei Großes erreicht worden: Der nationale Staat sei wiedererrichtet als „geschlossene Einheit aller Länder, eine (einzige ) Regierung (herrsche) über das Ganze“, diese sei gestaltet „nach den Prinzipien von Führertum und Auslese, Verantwortung, Disziplin und Vertrauen“.

Außenpolitisch sei die „Vernichtung des Versailler Diktats“ gelungen und damit seien die Ehre und „das Lebensrecht des deutschen Volkes“ als Bedingung des Friedens wiederhergestellt.

Über den Stil dieser Regierung wird am Ende der Rede nachgedacht: „Es ist der Stil des Sozialismus, Idealismus, Irrationalismus.

Die Gemeinschaft, nicht der Einzelne ist das Primäre. Nicht von praktischen, wirtschaftlichen, gegebenen Tatsachen geht der Nationalismus aus, sondern von der Idee, der höchsten Idee.

(...) Nicht von der ratio, der Vernunft, nimmt er seinen Impuls, sondern aus der Ehrfurcht vor dem Unerklärlichen. (...) Wie oft haben nicht Hitlers Reden geschlossen mit der Ehrfurcht vor dem Schöpfer der Welt. (...) Wir sind ergriffen von dem Gefühl zu leben in einer solchen Epoche des Glaubens, deshalb rufen wir dem Führer dieser Zeit entgegen ein dreifaches ‚Sieg Heil‘.“ 42 Die hochgradige Emotionalität, von der die Sprache getragen ist, läßt keinen Zweifel an der Begeisterung der Rednerin aufkommen. Es ist nichts über mögliche Reaktionen auf diese Rede auszumachen. Nicht unwahrscheinlich ist, daß solche Veranstaltungen, weil sie zu Pflichtübungen geworden waren, an den Schülerinnen abliefen wie die für langweilig erklärten Hitlerreden, die über den Rundfunk gemeinsam gehört werden mußten. Es ist aber auch denkbar, daß die Begeisterung der beliebten Lehrerin auf die Zuhörenden übersprang und dann zur Akzeptation der Diktatur beitrugen.

Es ist auch möglich, daß einige Schülerinnen, Lehrerinnen und Lehrer die Ausführungen sehr kritisch angehört haben, sich aber dazu nicht äußern konnten.

1933 45 15 1Im übrigen erfand das Regime viele Anlässe zum gemeinsamen Feiern oder Trauern in der Schule. Dabei wurden Traditionen entweder aufgenommen oder neue gestiftet und alte verworfen. Die hier vorgestellte „Feier zur Errichtung des Dritten Reiches“ verdrängte z. B. wie selbstverständlich die „Verfassungsfeier“ zur Errichtung der Weimarer Demokratie. Das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 5.März 1933 wurde als „überwältigender nationaler Sieg“ in einer Morgenfeier mit Ansprache des Direktors Dr. Ludwig Gerlach und unterrichtsfrei begangen. 44 Der „Tag von Potsdam“ am 21.3.33 wurde als „Tag des erwachenden Deutschland unter dem Zeichen des völkischen Staatsgedankens“ vom Direktor und seiner Schule begeistert gefeiert. 45 Schließlich ersetzte eine „schlichte und würdige Feier“ mit Ansprache des Direktors zu Hitlers Geburtstag die zur Kaiserzeit begangene Feier des kaiserlichen Geburtstages, und anschließend wurde wiederum schulfrei angeordnet. 46 Unter Leitung des neuen Schulleiters Walter Gerlach wurden vorrangig die außenpolitischen Erfolge, Erweiterungen, Eroberungen oder Raubund Vernichtungskriege der Deutschen festlich mit Reden vom Direktor oder auch Rundfunkübertragungen in der Aula gefeiert: Die Volksabstimmung im Saargebiet 1935 für Deutschland, „die Vollendung des Großdeutschen Reiches“ durch den „Anschluß“ Österreichs 1938, die „Münchener Besprechungen“ über die Zuerkennung der deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens im September 1938, sie wurden gefeiert mit einem Aufruf „zum unerschütterlichen Glauben an den Führer und seine geschichtliche Sendung“, die Besetzung der „Rest-Tschechei“ und die Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ im März 1939, die Besetzung des litauischen Memellandes durch deutsche Truppen im März 1939, benannt als „Rückkehr des Memellandes“, all dies wurde ausgiebig gefeiert. 47 Zum Kriegsbeginn sprach der Direktor vor den Kollegen als einem „außerordentlichen Ereignis“, 48 im April 1940 ließ er Göring überRundfunk in der Aula „Zur deutschen Jugend über den totalen Lebenskampf“ sprechen, während er selbst am 10.April 1940 über „die weltpolitische Bedeutung der Besetzung Dänemarks und Norwegens vor der Schulgemeinde redete. Am 11.Juni 1940 feierte die Schule den „Eintritt Italiens in den Krieg“ und „den glänzenden Sieg unserer Helden von Narvik“ mit den Worten von Direktor Walter Gerlach.

Eine nur kurze Feierstunde wurde am 14.Juni anläßlich des Einmarsches deutscher Truppen in Paris abgehalten, während eine längere „Kriegsfeierstunde über den denkwürdigen Zusammenbruch Frankreichs auf der ganzen Linie“ abgehalten wurde, dies mit Rückblick auf den November 1918, als im Wald von Compiègne die für Deutschland „schmachvollen Waffenstillstandsverhandlungen“ mit den Alliierten stattfanden; die „Schmach“ sei nun „ausgetilgt“ mit dem Sieg über Frankreich; zusätzlich wurde am 25. Juni das Ereignis des Waffenstillstandes zwischen Deutschland und Frankreich mit Feierstunde und Unterrichtsausfall begangen.

Besonders drastisch wurde der Beginn des Überfallund Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion im Jahresbericht 1941 angekündigt: Der Direktor sprach am 23.Juni 1941 in der Aula „zum Beginn des Kampfes im Osten gegen Bolschewismus und Weltjudentum“, und er sprach am 30.Juni in der „Kriegsfeierstunde“ über „die 12 Sondermeldungen des Vortages zum siegreichen Vormarsch unserer Truppen im Osten“. 49 In den folgenden Jahren ist eine Abmagerung der Jahresberichte zu beobachten; sie bestehen nur noch aus je zwei knappen Seiten mit verwaltungstechnischen Hinweisen; dann am 31.März 1944 findet sich der nüchterne Vermerk: „Wie in den Vorjahren wurde an allen nationalen Gedenktagen und bei allen wichtigen Anlässen des Kriegsgeschehens immer sogleich eine Feierstunde in der Aula veranstaltet, in der der Direktor vor der gesamten Schulgemeinde über die Bedeutung des Anlasses sprach.“ 50

Auch Trauerfeiern wurden als staatlich verordnete Rituale in der Schule abgehalten, z. B. in Erinnerung an die Wiederkehr des „Schandvertrages von Versailles“ oder im Angedenken an die verlorenen Kolonien. Vor allem der 9.November gab jedes Jahr wieder erneut Anlaß zum gemeinsamen Trauern: Man gedachte der „Blutzeugen der Bewegung“ vom 9.November 1923: Gemeint sind die zu politischen Märtyrern erhobenen Männer der „Bewegung“, die den Putschversuch gegen die Weimarer Republik unternommen hatten und diesen auch noch verteidigen wollten. Anläßlich der in der Stalingradschlacht gefallenen deutschen Soldaten wurde, soweit mir bekannt geworden ist, nur in der Schule an der Kleinen Domsfreiheit eine gemeinsame Gedenkfeier durchgeführt. 51 Aber ob die Schülerinnen selbst durch den verheerenden Krieg Väter, Brüder, andere Verwandte oder Freunde verloren hatten, schien von seiten 17Schulklasse 1937 der Lehrerinnen und Lehrer im anderen Teil der Schule am Wall nicht einer Frage wert, berichtet eine Schülerin. Offenbar galt hier, daß die Menschen „private“ Verluste auf heroische Weise zu verarbeiten hatten, ohne am Sinn des Krieges und an ihrem Idol, dem „Führer oder an der „Volksgemeinschaft“ zu zweifeln. 52

6. Die alltägliche nationalsozialistische Beeinflussung im Unterricht

„Hauptaufgabe des Unterrichts ist die Erziehung zu nationalsozialistischer Weltanschauung und Staatsgesinnung“, so schrieb der Reichsund Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 21. Juli 1934 53 und fügte hinzu, dabei sei keine Rücksicht auf andere Weltanschauungen zu nehmen; Andersdenkende könnten höchstens von der Teilnahme an Feiern und von bestimmten, nicht näher definierten Stunden befreit werden. Die „weltanschauliche Durchdringung des Unterrichts“ durch die „totale Bewegung“ zog eine neue Rangordnung im Fächerkanon nach sich: Hauptsächlich in den „deutschkundlichen Fächern und in Biologie“ sollte sie stattfinden 54 , wogegen Fremdsprachen und die Naturwissenschaften Physik und Chemie, auch Mathematik als nachrangig anzusehen seien. Durch die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften sollte der Unterricht abgestützt werden, da das Erziehungsministerium sich eine möglichst schnelle Ausrottung liberalen Gedankenguts 18 wünschte und noch keine neuen Schulbücher vorhanden waren. 1934 meldet der stellvertretende Direktor Barner die Einrichtung einer „nationalpolitischen Arbeitsgemeinschaft zur Einführung in das Gedankengut des Nationalsozialismus“ an den Oberpräsidenten, Abteilung für das höhere Schulwesen in Hannover, dann 1935 die Existenz einer biologischen AG unter dem Titel: „Die Grundlagen des natürlichen Systems des Pflanzenund Tierreichs und die Begründung der Abstammungslehre“, wofür ein Oberstudienrat eingesetzt wurde, der die „weltanschaulichen Konsequenzen“ aus der Abstammungslehre auch tatsächlich zu ziehen versprach, nicht nur sachlich den Stoff darstellte. 55 1936 wurde eine politische AG: „Die Einkreisung Deutschlands vor dem Krieg“ dem Ersten Weltkrieg – durchgeführt, die sich auch mit dem „Kommunismus in Spanien, dem Reichsbürgergesetz und dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der Deutschen Ehre“ befaßte. 56 In Musik wurde die AG „Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth“ angeboten; in „Nadelarbeit“ hieß das Thema: „Wäschenähen, Schneidern, Stoffkunde – volkswirtschaftliche Bedeutung der fraulichen Arbeit.“

Die Benutzung des Biologieunterrichts zur Ideologisierung der Schülerinnen

In der Weltanschauung des Diktators lag der Schwer-und Mittelpunkt auf biologistischen Vorstellungen, während seine politischen Ideen lediglich Mittel zur Durchsetzung dieser Grundideen waren, an die er übrigens bezüglich der Rassenlehre selbst nicht glaubte. 57 – „Nationalsozialistisches Denken muß biologisches Denken sein“, formulierte einer der Schulbuchautoren. Er schrieb, „ (...) daß durch die ganze Erziehung unserer heranwachsenden Jugend der unerbittliche Grundsatz gehen muß, die deutschen Jungen und Mädels so zu beeinflussen, daß sie später einmal als reife Männer und Frauen gar nicht anders können, als aus innerer Gesetzmäßigkeit heraus biologisch denken und handeln, gleich wie es ihre Ahnen einst getan haben.“ 58

„Hauptaufgabe des Unterrichts ist die Erziehung zu nationalsozialistischer Weltanschauung und Staatsgesinnung.“

Biologisches Denken sollte zum „Unterrichtsgrundsatz“ werden, in dessen Dienst sich alle Schulfächer zu stellen hätten. 59 Der Stoff wurde nach weltanschaulicher Filterung und Pointierung mit subtil ideologisch geprägter Sorgfalt in den Schulbüchern dargestellt. Es gibt einige noch heute in der Handbücherei der Biologielehrer und –lehrerinnen in der Schule vorhandene ausführliche Darstellungen, die die Didaktik des Faches mit der möglichst jugendwirksamsten und spannendsten Methode erörtern und Vorschläge für ein verbessertes Universtätsstudium der Lehrer enthalten. Die Lehrer, die das Fach vertraten, sollten völlig „zuverlässig“ sein, das bedeutet, sie sollten die nach völkisch-rassistischen Kriterien ausgewählten Unterrichtsgegenstände nicht nur sachlich vermitteln, sondern auch begeistert dahinterstehen und deren politische Konsequenzen nicht vernachlässigen. 60 Biologie wurde von einigen unserer Gesprächspartnerinnen als Lieblingsfach bezeichnet und auch besonders intensiv betrieben, wobei die Lehrerinnen und Lehrer des Faches nicht als NSAnhänger, sondern als weltanschaulich neutral eingeschätzt und besonders verehrt wurden.

Inhalt des Biologieunterrichts war – in Schwerpunkten vorgestellt – folgendes: Die Weiterentwicklung alles Lebendigen in der Natur und der innerste Zusammenhang alles Lebens sind die wichtigsten Bezugspunkte.

Dann die Überordnung des Ganzen über das Einzelne in der Natur und die Idee, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Dies wird hauptsächlich in zwei Linien vermittelt: Erstens in der Abstammungslehre, die die Weiterentwicklung, den Zusammenhang und die gegenseitige Bedingtheit alles Lebendigen seit Urzeiten und in der Weitergabe von Geschlecht zu Geschlecht verdeutlicht, woraus als Lebenskonsequenz für die Lernenden das Verständnis für die Eingebundenheit des eigenen kleinen Lebens in den riesigen Geschlechterzusammenhang der Menschheit, aber auch der Natur insgesamt erkennbar werden sollte.

Zweitens in der Entwicklung des Einzelwesens, in deren Verlauf sich eine Einzelzelle zum Zellverband, dann zum vielzelligen Organismus heranbildet, der dann als Individuum sich wiederum organisiert in größeren Gemeinschaften, ohne die er nicht lebensfähig ist, z. B. in der größeren Organisation des eigenen Volkes mit gemeinsamem Blut, gemeinsamer Kultur und Sprache.

Hieraus wird ein für die NS-Ideologie zentraler Gedanke gefolgert, der in dem „Führerwort“: ‚Du bist nichts, Dein Volk ist alles‘ verdichtet wird. Der oben zitierte Didaktiker interpretiert daraus folgendes: „Ehern steht dieses Führerwort über der gegenwärtigen Geisteshaltung von uns Deutschen. Zerbrochen ist das ‚Ich‘, dessen Anbetung uns an den Rand des politischen und wirtschaftlichen Todes gebracht hatte. Immer mehr beginnt sich das gesamte Geistesleben nach der großen, überpersönlichen Lebenseinheit unseres Volkes auszurichten, dessen Abhängigkeit von Blut und Boden im steigenden Maße erfühlt und begriffen wird.“ 61 Abgewehrt wird die in der christlichen Lehre vertretene Vorstellung von der besonderen Würde des einzelnen Menschen und auch die in der westlichen Aufklärung zentrale Idee von der aufgrund ihrer Natur einzigartigen Bedeutung der Person, die durch Grundrechte gegenüber 19Foto zur Zwillingsforschung 20 dem Staat geschützt werden muß und deren Entfaltung vorrangige Aufgabe des Staates ist. Die NS-Ideologie fällt hinter die durch den Liberalismus erreichten Rechtsvorstellungen zum Schutz und zur Entfaltung der Einzelperson zurück in die Barbarei: Das Individuum geht geradezu unter im Ganzen des Volkes, es kann gebraucht, benutzt, verbraucht, verachtet, gequält und getötet werden, und es kann verpflichtet werden zu allen Aufgaben, die eine selbsternannte Staatsgewalt ihm willkürlich auferlegt, bis hin zur Tötung anderer und Opferung des eigenen Lebens für das größere Ganze.

Es sei reine „Träumerei“, sich den Menschen als Mittelpunkt der Welt vorzustellen, erklärt ein NS-Wissenschaftler, dessen Werk für die Fachbibliothek angeschafft worden war. 62 Die Schulbücher behandeln natürlich die Grundsätze der Rassentheorie und Rassenpflege ausführlich. 63 Vom Gedanken der inneren Abgrenzung und Abgeschlossenheit der Arten ausgehend, wurde der „aristokratische Grundgedanke der Natur“ schon in Hitlers „Mein Kampf“ besonders herausgestellt. Er beinhaltet – in Abänderung der darwinschen Bedeutung daß im „Kampf ums Dasein“ der „Sieg des Stärkeren“ die „Höherzüchtung des Lebens“ als Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt“ ermögliche. 64 Die daraus gefolgerte Idee der Hierarchisierung der Rassen und die behauptete Notwendigkeit der Höherzüchtung und Pflege der Rassenreinheit mitsamt der Sorge um genügenden Lebensraum mit allen verbrecherischen Schlußfolgerungen sind bekannt. Sie wurden in der Schule ohne die allerbrutalsten Folgerungen vermittelt. – Deutlich wird aber in der für das Fach angekauften wissenschaftlichen Literatur der Gedanke der Ungleichheit aller Menschen propagiert: „Das früher gern gehörte Schlagwort von der ‚Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt‘, das wir schon (...) durch die Gesetze der Vererbung so gründlich widerlegt fanden, wird also auch durch die Ergebnisse der Rassenforschung als unzutreffend erwiesen.“ 65

In den Abiturthemen finden sich die deutlichsten Hinweise auf eine gründliche Vermittlung der biologistischen Inhalte. Da heißt es z. B.:

  • „Warum ist es notwendig, die erbbiologischen Gesetze auf den Menschen anzuwenden?“ Reifeprüfung Ostern 1938.
  • „Die Bedeutung erbbiologischer Erkenntnisse für den Bestand unseres Volkes“, RP 1938 „Warum war das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eines der ersten Gesetze, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erlassen wurden?“ RP 1940.
  • „Inwiefern sind die scharfen Maßnahmen gegen die Juden gerechtfertigt?“ RP 1940. 66

Aus einer mündlichen Abiturprüfung des Jahres 1935 ist folgendes zu entnehmen:

Aufgabe: „Welche Gesetze und Anordnungen der Regierung Adolf Hitlers dienen der Erhaltung und Erneuerung des Erbgutes des deutschen Volkes?“ – Im Protokoll sind folgende Stichworte verzeichnet: „Sterilisationsgesetz,dessen Notwendigkeit wird begründet, Vererbung der Bluterkrankheit, die rassische Zusammensetzung des deutschen Volkes und die Charakterisierung der einzelnen Rassen, Erbbild und Erscheinungsbild.“ 67

Die biologischen Informationen waren darauf angelegt, zu bestimmten Umwertungen und Einstellungsveränderungen bei den Schülerinnen zu führen. Ob die Tötung von Menschen, die an schwerer unheilbarer Krankheit leiden, auch tatsächlich ohne christlich gelenkte Ideen von Nächstenliebe und generellem Tötungsverbot von den Schülerinnen gesehen und akzeptiert werden konnte, maßte sich Direktor Walter Gerlach an, selbst zu überprüfen. Eine Schülerin des Abiturjahrgangs 1942 schreibt: „Wir wurden gezwungen, obwohl der Film nicht jugendfrei war, uns den NS-Film ‚Ich klage an‘ gemeinsam mit unserer Biologielehrerin anzusehen. Es geht um die Befürwortung der ‚Euthanasie‘. Am folgenden Morgen kam der Direktor in SA-Uniform in die Biologiestunde, um sich die Diskussion, die wir mit unserer jungen Biologielehrerin über das Thema führen mußten, anzuhören. Wir mußten in unserer Argumentation sehr darauf bedacht sein, auf unser eigenes Denkenkönnen abzuheben, um nicht unsere Väter zu gefährden.“ 68 Der genannte Film zeigt, wie ein äußerst liebevoller Mann, von seiner schwerkranken Frau darum gebeten, ihr das tödliche Gift selbst verabreicht und ihr dann bis zu ihrem Ende begleitend beisteht. Raffinierter konnte man den geistig-emotionalen Prozeß des Wertewandels in den Menschen gar nicht in Gang setzen, wurden diese doch höchst gefühlvoll darauf eingestellt, den Mord als Liebeshandlung bewerten zu lernen, ohne dabei Unrechtsgefühle zu entwickeln. Die ehemalige Schülerin beschreibt aber das Mißlingen der Absicht in bezug auf sich selbst und einige andere. Sie berichtet von anschließenden intensiven Diskussionen einiger katholischer mit evangelischen Schülerinnen über das Thema und erinnert sich der Freude darüber, daß sich hierbei eine Annäherung unter Anhängerinnen der beiden Konfessionen ergab, die zur Bildung einer „gemeinsamen Front“ gegen die Zumutungen der ideologisch besetzten Lehrer, Lehrerinnen und Mitschülerinnen führte. Ein Religionslehrer habe ihnen dabei geholfen.

Eine andere ehemalige Schülerin berichtet in einem Interview überwiegend positiv dem Unterricht gegenüber. Sie habe im ersten Jahrgang des 1935 errichteten Frauenschulzweiges den Biologieunterricht sehr gemocht und ihren Lehrer verehrt, welcher einen guten Unterricht erteilt habe. Sie habe zunächst Nahrungsmittellehre gehabt, und daran sei ja nichts Ideologisches zu finden. – Dann sei sie im Unterricht über Rassenlehre, weil sie blond, blauäugig, schlank und groß gewesen sei, als typisch nordisch herausgestellt worden, was wahrscheinlich damals als etwas schmeichelhaft empfunden worden sein könne, jedenfalls keine Abwehr erzeugt habe. – Ob man es damals in Ordnung fand, wenn man erfuhr, die Arier seien als Herrenrasse zur Herrschaft über die anderen Rassen bestimmt, fragte eine Schülerin aus dem 13. Jahrgang in dem gleichen Interview. Das habe man überall gehört; es sei das Normale gewesen, gibt die Befragte zu bedenken. Die Frage bekomme einen etwas fremden Klang, wenn sie von uns auf solche Weise gestellt werde. Aber später, besonders im Alter habe sie lange darüber nachgedacht, daß der Einfluß des Biologieunterrichts doch weitaus stärker gewesen sei, als sie vermutet habe. Sie habe z. B. einen Mann geheiratet, der Kinderlähmung hatte und Brillenträger war, also zur Nazizeit als nicht vollwertig betrachtet worden sei, und habe in diesem Zusammenhang noch sehr viel darüber nachgedacht. 69

Ideologisch beeinflußter Deutschunterricht

Die Befolgung der Leitlinie des zuständigen Ministers im Fach Deutsch ist vermutlich schwerfällig verlaufen. Erst im Jahre 1938 erschienen neue Richtlinien, und auf neue Lehrbücher warteten die Schulen noch ein Jahr länger; im Unterricht wurde weiter mit dem Buch „Wägen und Wirken“ aus dem Jahre 1925 gearbeitet. 70 Es störte nicht, weil es schon hinreichend Anknüpfungspunkte für die Politisierung im NS-Staat bot. Der Bereich Heimatdichtung, besonders bäuerliches Leben ist vorhanden und konnte die sogenannte „Blutund-Boden-Literatur“ vorbereiten. Der „Kampf um das Deutschtum“ hat breiten Raum, er zielt hin auf die Förderung des Gedankens der großen Gemeinschaft aller Menschen deutscher Abstammung, auch derer im Ausland, etwa in Siebenbürgen, Böhmen, im Banat oder in Österreich, Polen und Litauen, und konnte für die NS-Lebensraumpolitik mißbraucht werden. Die Auswahl von nordischer Literatur, etwa „Gudruns Klage“ von Emanuel Geibel oder „Aus dem Lied von Kriemhilds Not“ von Wilhelm Schäfer und „Wie Thor sein Gesinde gewann“ nach der „Edda“ gestaltet, half, dem rassistischen Herrenmenschengedanken zur Durchsetzung, wenn die Unterrichtenden das so wollten. Insofern gab es wahrscheinlich wenig Probleme, man mußte lediglich auf dem vorhandenen Fundament aufbauen, unterrichtete frei oder nach Lesebögen, die eilig von den Verlagen erstellt wurden, oder suchte der Ideologisierung in Bildungsnischen, in denen einfach der alte Literaturkanon außer der vom Regime verbotenen Literatur weiter behandelt wurde, auszuweichen.

Das 1939 erschienene Buch „Deutsches Lesebuch“ ließ hingegen weniger Spielraum. 71 Der Band II beginnt z. B. mit dem SpruchGedicht von Will Vesper: „Dem Führer So gelte denn wieder Urväter Sitte: Es steigt der Führer Aus Volkes Mitte. Sie kannten vor Zeiten nicht Krone noch Thron. Es führte die Männer Ihr tüchtigster Sohn, Die Freien der Freie Nur eigene Tat Gab ihm die Weihe Und Gottes Gnad!“ (...)

Dem Spruch ist ein ganzseitiges Hitlerbild zur Seite gestellt. Auf der nächsten Seite findet man ein Bild uniformierter Hitler-Jugend mit einem Auszug aus der Rede Hitlers an die Jugend von 1935, in dem die ersten Sätze heißen:

„Wir wollen ein Volk sein, und ihr, meine Jugend, sollt dieses Volk nun werden. Wir wollen einst keine Klassen und keine Stände mehr sehen, und ihr dürft schon in euch diesen Klassendünkel nicht groß werden lassen! Wir wollen einst e i n Reich sehen, und ihr müßt euch dafür schon erziehen in e i n e r Organisation.“ 72

Erziehung zu Kameradschaft, gegenseitiger Hilfe und vor allem heldischer Gesinnung und todesmutiger Tapferkeit im Einsatz für das Vaterland bestimmen als Zielvorstellungen die Textauswahl. Als Beispiel kann ein Text dienen, der den Titel: „Die Opferung der Iphigenie“ Gottfried Klee hat die antike Vorlage für Kinder umgestaltet trägt. Die Reaktion der Iphigenie auf ihre eigene von den Göttern geforderte Tötung, damit die Griechen den Krieg gegen Troja beginnen können, wird so gestaltet: „Ein edler Mut kam über sie, und sie sprach zu ihrem Vater: ‚Lieber Vater, trauere nicht mehr, und auch die Mutter soll nicht mehr weinen! Zum Wohle des Vaterlandes will ich gern denTod erleiden.‘ “ 73 Oder Hans Thoma wird mit dem Gedicht „Zwei Helden“ eingebracht. Die ersten beiden Strophen heißen: Ich seh: ein deutsches Weib geht hinterm Pflug, und in der Furche schläft ihr kleines Kind; dann streut andächtig sie aus ihrem Tuch die goldnen Körner in den Abendwind.

Dein Mann pflügt jetzt im Feindeslande fern Mit blutgem Schwert auf einem fremden Feld: Eins denkt ans andre, betend zu dem Herrn, und jedes von euch beiden ist ein Held.

(...) 74 Dem Volksganzen zu dienen unter Zurückstellung der individuellen Glücks-und Lebensbedürfnisse, dieser Gedanke wurde immer wieder an verschiedensten Figuren in der Dichtung als vorbildhaft hingestellt und hatte gerade für viele junge Menschen eine große Faszination. Die spruchhafte Variante, die von allen Zeitzeuginnen heute immer noch zitiert wird, heißt, wie oben schon genannt: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Und es wird auch bis heute darüber diskutiert, ob solche Ideen nicht positiv zu bewerten seien und wieder hilfreich gegen den hochtreibenden Egoismus in unserer Gesellschaft eingesetzt werden sollten, denn Gemeinschaftssinn hätten alle damals gelernt.

Allerdings kommen dagegen schnell auch immer Bedenken darüber auf, ob diese Forderung, das Individuum solle sich selbst völlig aufgeben, nicht eine leichtfertige Erziehung zum Tode wäre und damit einen gefährlichen Mißbrauch des Idealismus der Jugendlichen durch das NS-Regime darstellte.

Aus den in den Akten vorhandenen Lehrplänen, Aufsatzund Abiturthemen der Schule sind die Auswahlkriterien für den Oberstufenunterricht ablesbar: Aus altgermanischer und mittelalterlicher Dichtung sollten Figuren, die Zeugen „deutscher Tapferkeit, Mannestreue und Kampfeslust“, aber auch „Bürgertreue und –tüchtigkeit“ sind, ausgewählt werden. Beispiele sind das Hildebrandslied, der Heliand, die Nibelungen, Handwerkerund Ritterdichtung.

Für die klassische Literatur galt als Leitmotiv „Der nationale Gedanke“. Dieser konnte, wenn man den Gehalt hoffnungslos verengte, hervorragend etwa an Friedrich Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ verdeutlicht werden.

Schiller stellt ein junges Bauernmädchen vor, das unter göttlicher Sendung seinen König aufsucht, ihn zum Krieg gegen die Engländer ermutigt, diesen Krieg selbst zum Siege führt und damit Frankreich, sein Vaterland, unter Verlust des eigenen Lebens von den Feinden befreit. Die hier herausgestellte Stoffgeschichte entsprach zwar dem nationalen Interesse der NS-Schulbehörden, war aber nicht Schillers Problemschwerpunkt. Er wollte einen tragischen Konflikt in der Figur vorstellen: den zwischen der göttlichen Sendung der Hauptfigur und ihrem Verlangen nach irdischer Liebe.

Noch geeigneter im Sinne der weltanschaulichen Durchdringung im Unterricht schien Heinrich von Kleists „Prinz von Homburg“ zu sein. „Kleist entdeckt das Vaterlandsgefühl“ hieß der Leitsatz, unter dem die Werke Kleists generell, besonders aber der „Prinz“ stehen sollten. 75 Interpretiert werden sollte dann in rüdester Simplifizierung folgendes: „In ihm (dem Schauspiel) erleben wir, besonders in der Gestalt des Großen Kurfürsten, das staatsgründende und staatserhaltende Ethos der Pflichterfüllung fürs Vaterland. Das Staatsprinzip, das Preußen großgemacht hat, ringt sich in den Seelenkämpfen eines opferbereiten Menschen zum Siege. Der Prinz von Homburg geht durch 23alle Todesschauer und erkennt, daß gegenüber der höheren Idee des Vaterlandes persönliches Glück, ja das Leben selbst, wertlos sind.“ 76 Daß Kleist sich zur Zeit der Entstehung des Werkes in sehr krisenhafter Auseinandersetzung um die Möglichkeiten menschlichen Erkennens befand und dadurch die Aussagen über richtiges Handeln überhaupt nicht eindeutig sind, war den NS-Interpreten reichlich gleichgültig.

Der Umgang mit Johann Wolfgang Goethes Werken brachte dem Regime einige weltanschauliche Schwierigkeiten, war doch den NS-Fachleuten klar, daß es sich auch um den Gedanken der Humanität handelte, den Goethe mit der Aufnahme von Aufklärungsideen in seine Dichtungen eingebracht hatte. Diese Rezeption erschien generell als verwerflich. Der Konflikt entwickelte sich in der Diskussion um die „Brauchbarkeit“ der „Iphigenie auf Tauris“, eines Lieblingsdramas des Bildungsbürgertums, das jede Abiturientin kennen mußte. Daß aber die Heldin am Ende von einem „barbarischen“ König auf friedliche Weise Abschied nimmt und ihn zum Freund haben möchte, anstatt ihn schlichthin zu belügen, zu betrügen und zu überlisten, konnte nicht im Sinn der NSIdeologie sein: Die „harmonische Ausbildung des Einzelmenschen als des einzig Wertvollen, die „edle Menschenbildung“ stelle eine Verkennung der geschichtlichen Kräfte dar, die der Erziehung zur Volksgemeinschaft dienstbar gemacht werden sollten. 77 Man einigte sich in der Schule, wahrscheinlich um die traditionsorientierten Bildungsbürger nicht zu irritieren, in einer Fachkonferenz im Jahre 1940 auf den Kompromiß, man wolle zwar die Lektüre des Schauspiels dulden, aber keine Anschlußthemen mehr behandeln, denn „wir erziehen nach neuen Wertmaßstäben zu einer kämpferischen Haltung“, nicht in klassisch-humanistischem Geist“. 78 Im Schuljahr 1940/41 hieß ein Aufsatzthema: „Entspricht die Iphigenie Ihrem Ideal von der Frau?“ Die 24 Frage sollte höchstwahrscheinlich verneint werden. 79 Im übrigen stand Goethe mit seiner Sturmund Dranglyrik, auch mit dem „Götz von Berlichingen“, „Faust“, „Torquato Tasso“ und „Egmont“ und vor allem im hauswirtschaftlichen Zweig der Schule mit „Hermann und Dorothea“ durchgängig im Lehrplan. Nationalsozialistische Bildung sollte also das Erbe der deutschen Klassik antreten, wobei Umdeutungen des Sinngehalts skrupellos vorgenommen wurden. Aber selbstverständlich auch „Reinigungen“ des klassischen Bestandes. Das Aufklärungsdrama Lessings „Nathan der Weise“ verschwand 1934 aus den Lehrplänen, obwohl auch dies eins der bekanntesten und beliebtesten Werke deutscher Literatur war. Lessing hatte einen jüdischen Kaufmann als klugen Schlichter im Streit um Religionsfragen zwischen Christen, Juden und Moslems in den Mittelpunkt seines Schauspiels gestellt und damit den Geist der Toleranz verbreiten wollen.

Warum die Aufklärungsideen als völlig zerstörerisch in der NS-Zeit angesehen wurden, vermittelt das Geschichtsbuch „Führer und Völker“ 80 auf folgende Weise: Die Aufklärung lehne alles geschichtlich Gewordene ab, wolle also von Volksgemeinschaft als einem Organismus nichts wissen und könne auch den Staat als „geformte Volkheit“ nicht anerkennen. Volk sei für die Aufklärer nur die Summe der einzelnen, die einander alle gleichen. Der Begriff Rasse sei völlig unbekannt, der einzelne Mensch stehe für die Aufklärer über der Rasse. Die Rassenfrage sei aber für alle geschichtlichen Entscheidungen von vorrangiger Wichtigkeit, es müsse erkannt werden, daß die Ideen von Brüderlichkeit, Toleranz und Weltbürgertum verhängnisvoll für die Durchsetzung des völkischen Staates seien.

Als sehr wichtig im nationalsozialistischen Sinne sind in den Lehrplänen solche Schriftsteller mit ihren Werken vorgestellt, dieaus einer Verlagsanzeige leichter im Sinne der Ideologie verstanden werden konnten. Dazu gehörte die Literatur des „Jungen Deutschland“, z. B. mit der „Reckengestalt“ Ernst Moritz Arndt oder dem „Volksmann“ Friedrich Ludwig Jahn 81 und dem Verkünder echter „Bürgertüchtigkeit“ Ferdinand Freiligrath, mit den für das deutsche Mittelalter begeisterten romantischen Dichtern Clemens Brentano und Achim von Arnim, den „Erziehern zu staatsbürgerlichem“ Verhalten, z. B. Otto Ludwig, und vor allem Friedrich Hebbel, dessen „Trilogie der Nibelungen“ als Beispiel wahrhaft nordischen Ethos gerühmt wurde; an dieser Dichtung konnte gelernt werden, daß Helden „lächelnd in den Tod gehen“, daß also „die Verachtung des Todes“ wirkliches Heldentum bedeute. 82 Äußerst beliebt war die Dichtung von Hermann Löns, dessen Werke reichsweit empfohlen wurden, „weil der große Traum des Dichters Hermann Löns darin bestand, das deutsche Volk zurückzuführen zu den Urquellen seiner Kraft: dem Blut, das seit Jahrtausenden dasselbe geblieben ist, und der Erde, dem Boden, darauf der Mensch lebt. (...)Könnte Hermann Löns heute auferstehen und sein Deutschland schauen, dann würde er erkennen, daß vieles von dem, was er mit sehnsuchtsvollem Herzen und in übergroßer Liebe zu seinem Volk einst erträumte, in dem Deutschland Adolf Hitlers bereits Wirklichkeit geworden ist“, heißt es in einer Verlagsanzeige.

Als zeitgenössische Dichter wurden vor allem Erwin Guido Kolbenheyer, „Gregor und Heinrich“, Walter Flex, „Der Wanderer zwischen zwei Welten“ im Unterricht behandelt, sowie die umfassenderen Bücher von Ernst Jünger „Der Krieg als inneres Erlebnis“ und von Hans Grimm „Volk ohne Raum“ sowie Arthur Moeller van den Brucks „Das Dritte Reich“ als „Hauslesestoff“ gelesen. 83 Ein Reifeprüfungsthema im Anschluß an Grimms „Volk ohne Raum“ hieß im Jahre 1937: „Erklären Sie Hans Grimms Forderung von 1926: ‚Wir fordern die Gerechtigkeit des Raumes für alle Völker nach Zahl und Leistung!‘ “ Diesbezüglich Vollständigkeit zu erstreben und die Werke inhaltlich zu verdeutlichen ginge weit über diesen Rahmen hinaus. Es sei nur darauf hingewiesen, daß es viele Seiten empfohlener und verbotener Lektüre und natürlich auch auszusortierender und neu anzuschaffender Bücher für die Schülerund Lehrerbibliothek in den Schulakten gibt, 84 daß die Bücherei mehrfach aussortiert und ergänzt werden mußte, daß die Überreste der damals angeschafften Literatur noch heute in der Lehrerbibliothek in einem sogenannten „Giftschrank“ zur Abschreckung heutiger Leser vorhanden sind. Das alles läßt keinen Zweifel an der intensivsten Versorgung mit regimetreuer Lektüre. Ob sie jedoch auch intensiv gelesen worden ist, bleibt dahingestellt, vor allem theorieähnliche Werke wie Alfred Rosenbergs „Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts“ oder sogar Baldur von Schirachs „Die Hitler-Jugend – Idee und Gestalt“, das ja Grundlagenliteratur für jeden Unterrichtenden hätte sein sollen, 25zeigen kaum Benutzerspuren.

Die Fachpädagogen in der Wissenschaft schienen Zweifel an der regelrechten Durchführung des Deutschunterrichts in den Schulen gehabt zu haben. Und der Direktor schloß sich offenbar solchen Überlegungen an. Er lud die Fachkollegen und -kolleginnen zu einer Konferenz ein, in der er selbst als Referent eines Aufsatzes aus der Zeitschrift „Weltanschauung und Schule“ vom Juni 1940 auftrat. Eine Durchsicht der Aufsätze habe gezeigt, daß „Auffassung und Verfahren des neuen Deutschunterrichts noch viele Mängel“ aufwiesen. Beispielsweise zeigten die Besinnungsaufsätze meistens keinen genauen Bezug auf den vorangegangenen Unterricht, der ja deutlich weltanschauliche Prägung enthalten sollte. Der Referent zitiert: „Für den Erfolg ist das innere Erfaßtsein des Lehrers und die Echtheit seines Ringens um Klarheit das, was ihm das Vertrauen der Schüler sichert.“ Auf die „Erfülltheit der Lehrenden“ also komme es an. Die Aufsätze hätten den Beweis dafür zu erbringen, daß eine angemessene Deutung des Schrifttums im Unterricht erfolgt sei. Denn: „Jeder Aufsatz ist ein Beitrag zur Erziehung zum deutschen und politischen Menschen.“ 85 Einige ehemalige Schülerinnen haben sehr gute Erinnerungen an ihre damaligen Lehrerinnen, die einen „phantastisch guten und sehr anregenden Deutschunterricht ohne politische Tendenzen“ gegeben und ihnen vor allem die „Schönheit der deutschen Sprache“ gezeigt hätten. 86 Eine andere bedauert sehr, daß ihr die Lektüre großer Dichtungen aus dem 20. Jahrhundert völlig versagt blieb: „Wir hatten Deutsch ohne die großen Romane von Thomas Mann und von Franz Kafka, ohne die Stücke von Bertolt Brecht zu lesen. Das ist unvorstellbar!“ Erst nach 1945 habe sie während einer journalistischen Ausbildung nach und nach all „die verbotenen Bücher“ gelesen, um überhaupt den Anschluß an die Kultur der Zeit 26 vor dem Faschismus oder an die Exilliteratur der 30er Jahre zu bekommen. 87

Eine damals kritisch erzogene Schülerin berichtet über eine Leseverpflichtung als Strafaktion folgendes aus dem Jahr 1943: „Ich hatte in einem privaten Gespräch mit Mitschülerinnen gesagt, daß Jesus Jude war und somit die christlich-abendländische Kultur jüdisch geprägt sei. Dies war dem Direktor zu Ohren gekommen. Er ließ mich in sein Zimmer kommen und forderte, daß ich für das Abitur, wenn ich überhaupt zugelassen würde, ihm sowohl die wichtigsten Thesen Hitlers aus ‚Mein Kampf‘ wie die von Hans Grimm aus ‚Volk ohne Raum‘ genau vortragen müsse; selbstverständlich hätte ich diese Thesen zu akzeptieren. Zynisch äußerte er sich in diesem Zusammenhang über meinen Vater. Er wisse, daß dieser den Nationalsozialismus kritisiere und daß diese Kritik Konsequenzen haben könne für ihn und für die ganze Familie. Ich konnte in dieser Situation kein Wort erwidern, nur mit Mühe noch meine Tränen zurückhalten. Verzweifelt und hilflos kehrte ich in unser Klassenzimmer zurück und sprach mit niemandem über das gerade stattgefundene Gespräch. Ich fühlte mich verraten. Von wem? Warum? Ich nahm mir vor, diesen Angriff des Direktors zu überwinden. So las ich die schrecklichen Bücher, um ihre Thesen zu durchschauen und mich von ihnen zu distanzieren. Ich haßte die Schule. Das Notabitur 1944 und in ihm die politischen Fragen des Direktors wurden aber fast bedeutungslos angesichts der Kriegswirren, der Zerstörungen und des Sterbens so vieler Menschen, die ich persönlich kannte und liebte.“ 88

Die Umwertung der Geschichte

Geschichte bedeutete für Hitler „Lebenskampf der Völker um Lebensraum“. 89 Die als Naturgesetz betrachtete und mit religiöser Bedeutung aufgeladene Vorstellung forderte kämpferische Durchsetzung der biologischhochwertigsten Rasse, den Sieg der Besten und Stärksten als „inneres Wollen der Natur“. 90 An den Geschichtsunterricht, dem das Regime demgemäß eine „gesteigerte Bedeutung“ und „wesentlichen Anteil an der Verantwortung“ für die Durchsetzung des „richtigen Denkens“ zumaß, 91 erinnern sich meine Interviewpartnerinnen mit großer Intensität. Sie hätten einen „sehr umfassenden Geschichtsunterricht gehabt, der von den alten Germanen über das Mittelalter bis in die Neuzeit ging, was ja heute nicht mehr gegeben sei“, meinten sie. Dem wurde aber entgegengehalten, daß die „Schwerpunkte natürlich durch die NS-Weltanschauung vorgegeben waren“, also eine „bestimmte Sicht der Geschichte“ vorgeschrieben war, die Lehrerinnen und Lehrer also gezwungen waren, „so zu unterrichten“, und die Schülerinnen „nicht widersprochen oder kritisch nachgefragt“ hätten. 92 Inhalte des Unterrichts seien gewesen: die Ausdehnung des Reiches, dessen Vergrößerung immer wieder auf der Karte vorgestellt wurde, dann „natürlich die Bedeutung der Deutschen als Herrenrasse“, denen das immer weiter vergrößerte Reich angeblich zustand. „Große Männer“ hätten im Mittelpunkt gestanden: Karl der Große, Luther, der Alte Fritz, Bismarck, Hindenburg und natürlich Hitler selbst. Es mußte ein Kriegstagebuch geführt werden, und die aktuelle Geschichte habe darin bestanden, daß der Wehrmachtsbericht jedesmal auswendig aufgesagt werden mußte, dessen Bedeutung dann erklärt worden sei; nach der Schlacht von Stalingrad habe das zu dem hilflosen Lehrerkommentar geführt: „Wir ziehen uns siegreich zurück!“ In den letzten Jahren des Krieges hätten alle gemeinsam auf ein Wunder gewartet, das dem Dritten Reich trotz aller Kriegsverluste doch noch zum Sieg verhelfen sollte. Geschichte anderer Völker sei sehr vernachlässigt worden.

Vor allem englische Geschichte, aus der man etwas über die Entwicklung der Demokratie hätte erfahren können, sei von ihnen, den Schülerinnen selbst verlacht und mit Spott überzogen worden, die Engländer waren ja „doof“, so wie es das Feindbild vorgab. Selbst einer in Oxford ausgebildeten Englischlehrerin, die ihnen einen Einblick in die Form der Demokratie am englischen Beispiel geben wollte, hätten sie gar nicht zugehört, was sie heute für völlig unverständlich hielten. Die Intensität, mit der die Ideologie durchschlug, sei sehr von den einzelnen Lehrern und Lehrerinnen abhängig gewesen. „Es gab einige, die das Propagandistische abmilderten und ihre Distanz zum Regime nicht versteckten, andere, die das Geschichtsbuch für zu formelhaft hielten und frei unterrichteten. Aber wieder anderen sei die NSPropaganda-Floskelhaftigkeit mit jedem Satz über die Zunge gekommen, das hätte man sehr genau damals schon unterscheiden können. 93 Aber die Gesprächsteilnehmerinnen vermeiden jeden Satz, der zu „einer arroganten Bewertung“ des einen oder anderen Verhaltens führen könnte, „man kann sich heute die Situation, unter der damals gehandelt werden mußte, überhaupt nicht im einzelnen vorstellen“, sagt eine von ihnen. 94 Das 1939 erschienene Schulbuch „Führer und Völker“ für die Oberstufe 95 macht die Maßgaben für den Unterricht in der Einleitung sehr deutlich: „Da das Gesamtleben der Nation eine grundlegende Veränderung erfuhr“, hat „das Erleben unserer großen Zeit zu Blickpunkten und Maßstäben geführt, die 27der Geschichtsschreibung künftig ein anderes Gesicht geben“. Zwar müsse man auch weiter „in Ehrfurcht vor den historischen Tatsachen“ stehen und „Diener der Wahrheit“ bleiben, es gebe aber eine „neue Schau“ der Tatsachen, die „durch den Führer gelernt“ worden sei. Aufgabe sei nun eine „klare Heraushebung der großen Entwicklungslinien“, Schwerpunkt müsse „das deutsche Volk und Volkstum in seinem schicksalhaften Ringen um arteigene Entfaltung im Kampf um seinen Lebensraum, um seine Einheit und das Reich“ sein. Hitlers Staat sei die „endliche Verwirklichung des wahren deutschen Volksstaates“. Maßstab für die „Bewertung der führenden Männer und der richtunggebenden Ideen“ werde immer „die Leistung für die Erhaltung von Blut und Boden, für die Sicherung der artgemäßen sittlichen Güter“ sein. 96 Diesen Leitlinien folgen Auswahl und Bewertung der historischen Tatsachen. So ist dem Ausgriff der Deutschen nach Osten viel Platz eingeräumt, die „Versippung“ und „Eindeutschung“ sollte den Anspruch auf weitere Gebietsnahme im Osten legitimieren.

Am städtischen Bürgertum des Mittelalters sollten Bürgertüchtigkeit, Fleiß und Gemeinschaftssinn über die Stände hinweg beispielhaft für die „Volksgemeinschaft“ gelernt werden, der Frühkapitalismus wird zwar als phantasievoller Neuanfang gewertet, aber nicht ohne den Hinweis darauf, daß „die Juden die beutegierigen Schrittmacher und Nutznießer“ waren. Der deutsche Humanismus wird als „gefährliche Überfremdungserscheinung“ betrachtet, während Luthers Wirken als „große Revolutionierung“ für die Entwicklung des Deutschtums verstanden werden sollte. Über die Aufklärungsbewegung gibt es ausführliche, sehr kritische Passagen. Hauptkritikpunkt ist die Mißachtung des historisch Gewordenen, vor allem der Volksgemeinschaftsidee mit ihren rassistischen Implikationen und der daraus folgenden Duldung der Juden unter der Gleich28 heitsidee. Daß die Aufklärung in Freimaurerei, Liberalismus, Marxismus und Bolschewismus weiterwirke, wird als ebenso verhängnisvoll dargestellt wie die Tatsache, daß die Aufklärer auch die Revolution in Frankreich und den Eroberer Napoleon hervorgebracht hätten.

Die „Erhebung“ Deutschlands ist betitelt als „preußische Wiedergeburt“ mit dem Zurückgehen auf die tiefsten Wurzeln germanischdeutschen Wesens. Die deutsche Revolution von 1848 hätte zwar eine wirkliche bürgerliche Bewegung sein können, kam aber durch die westlichen Ideen der Aufklärung und durch den Mangel an einem wirklichen Führer nicht zum Ziel. Der letzte Band des Lehrbuches liegt mir nicht vor. Ich folge der Themenauflistung in einem Ersatzschulbuch, das 1938 benutzt worden ist, um den historischen Durchgang zu vervollständigen. Folgerichtig heißt es dort: „Das Zweite Reich als führende Macht in Europa“, „Der Kampf gegen Deutschland“, gemeint ist der Erste Weltkrieg, der angeblich als Angriffskrieg der Alliierten begonnen und mit dem „Schandvertrag“ von Versailles zu Ende gebracht worden sei, dann „Der Deutsche Aufbruch“, also der Beginn des Hitler-Regimes 1933. 97

Daß der Geschichtsunterricht sich, auch wenn widerständige Impulse bei einzelnen Lehrerinnen erkennbar waren, grundsätzlich an diese Leitlinien hielt, geht recht deutlich aus einer Vielzahl von Aufsatzthemen mit historischen Aufgaben und aus den Prüfungsthemen zum Abitur hervor. Die Ausführungen der Schülerinnen sind nicht erhalten, aber einige Themen seien beispielhaft genannt:

  • „Wie hat Bismarck den Krieg von 1866 planmäßig herbeigeführt?“ Reifeprüfung 1937
  • „Bismarck und die Parteien im Gegensatz zur heutigen einheitlichen Führung des Reiches!“ RP 1939
  • „Wie suchte das Zweite Reich die Raumfragezu lösen, und welche Gefahren ergaben sich daraus?“ RP 1939
  • „Warum verlangen wir unsere ehemaligen Kolonien zurück?“ RP 1938
  • „Widerlegung der Kriegsschuldlüge!“ RP 1938
  • „Inwieweit sind territoriale Verluste, die das Versailler Diktat Deutschland brachte, wiedergutgemacht worden?“ RP Herbst 1939 nach Kriegsbeginn
  • „Unser geschichtliches Recht auf den ehemaligen polnischen Korridor!“ RP im Herbst 1939 nach Kriegsbeginn.
  • „A. von Moltke: ‚Über den Wert eines starken, tüchtigen Heeres‘! Wiedergabe des Gedankenganges“. RP 1940 98

Wie sehr in der Reifeprüfung mindestens Lehrerinnen und Schülerinnen zum gut funktionierenden Team wurden, zeigen Aufgabe und Protokoll einer mündlichen Geschichtsprüfung aus dem Jahre 1937. Die Lehrerin gab folgende Aufgabe voraus: „Ausspruch Friedrichs des Großen: Zwei Triebfedern bestimmen mein Handeln: Die eine ist das Ehrgefühl und die andere das Wohl des Staates, den der Himmel mir zum Regieren gegeben hat. Sie schreiben mir zwei Gebote vor: einmal, nie etwas zu tun, worüber ich zu erröten hätte, wenn ich meinem Volke Rede stehen müßte, und sodann: für meines Vaterlandes Heil und Ruhm den letzten Tropfen meines Blutes hinzugeben.“ – Das Protokoll verzeichnet: „Es wurden Beispiele gegeben dafür, wie Friedrich der Große für sein Land kämpft und sich um das Wohl seines Volkes sorgt. Zur Frage nach innenpolitischen Schwierigkeiten werden Merkantilsystem und Vierjahresplan verglichen und die Übereinstimmung der Bestrebungen Friedrichs mit denen der Gegenwart festgestellt.“ Unter dem Protokoll steht als „Urteil“: 1. 99 Von den ehemaligen Schülerinnen wird die prüfende Lehrerin als resistent dem Regime gegenüber beschrieben, die Protokollantin jedoch als höchst angepaßt. Welchen Balanceakt alle an der Prüfung Beteiligten vollbrachten, kann man sich schwerlich angemessen vorstellen.

6. Kriegsvorbereitungen und Kriegserfahrungen

Im Bereich der Schule begann die Erziehung zum Krieg mit der Einschätzung des 1919 unterzeichneten Friedensvertrages zwischen Deutschland und den Siegermächten als „Schandvertrag“ von Versailles. Die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete mit ihrer deutschen Bevölkerung sollten zurückgeholt werden; dies müßte, wenn es notwendig erschiene, durch einen Revisionskrieg geschehen, propagierten die Politiker des NS-Regimes unter Zustimmung der Mehrheit der Bevöl29kerung. Ergänzt wurde dieser Wunsch durch den Gedanken, Deutschland sei, wenn alle im Ausland lebenden deutschen Menschen zu den im Reich lebenden hinzugezählt würden, ein 100-Millionen-Volk, das zusammengehöre.

Darüber hinaus verstärkte sich die rassistisch untermauerte Volk-ohne-Raum-Vorstellung in der Gesamtbevölkerung, die die Kriegserwartung fast wie ein selbstverständliches Nebenprodukt der NS-Ideologie wachsen ließ. Lediglich die Furcht derer, die den Ersten Weltkrieg, der unter Einsatz der modernsten Massenvernichtungsmittel geführt worden war, miterlebt hatten, und derer, die den Frieden als höchsten Wert ansahen, stand dagegen.

Die Jugend sollte in der Schule zunächst mit dem Gedanken vertraut gemacht werden, daß der Kampf um die Zusammenfassung aller Deutschen historisch berechtigt und eine Schicksalsfrage für die Nation sei. Als fürsorglicher Einsatz wurde die Arbeit des „Volksbundes für das Deutschtum im Ausland“, VDA, von den Schulbehörden gedeutet.

Diese sollte unbehindert und verstärkt in den Schulen durchgeführt werden, um die Kontakte aller Deutschen zu fördern, „damit der geistige und seelische Zusammenhalt der Deutschen auf der ganzen Erde gefördert würde und stets im Bewußtsein der Jugend wäre.“ 100 Bis auf sehr wenige Ausnahmen arbeiteten alle Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen im VDA. Sie sammelten Geld, feierten Feste jeweils für bestimmte Auslandsgruppen und stellten Briefkontakte her. An den Gedanken, daß die endgültige Revision des Versailler Vertrages nur durch einen Bruch eben dieses Vertages zu erreichen sei, wurden die Schülerinnen allmählich gewöhnt.

Aus dem Jahre 1934 ist eine kleine Anzahl von Schüleraufsätzen gesammelt, in denen es z. B. heißt: „Doch seit dem Schandvertrag von Versailles sind uns sämtliche Angriffsund Verteidigungswaffen verboten. Während rund um 30 Deutschland die Feinde bis zum Hals in Waffen starren und die Bombengeschwader wie eine drohende Wolke am Himmel hängen, steht Deutschland wehrlos da.“ 101 In dem Aufsatz einer anderen Schülerin heißt es ergänzend: „Die Möglichkeit, uns aktiv zu wehren, ist uns genommen worden, (...) jeden Tag überzeugen wir uns von dem rücksichtslosen Vorgehen des Auslandes.“ 102 Ganz eindeutig wurden die Schülerinnen in dem Gedanken gehalten, daß die Deutschen als Unrechtsopfer zu betrachten seien und daß der kommende Krieg nur als gerechter Verteidigungskrieg geführt werden würde. Die geheime Aufrüstung und die Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht, mit denen sich das Regime spätestens seit 1935 von den Bestimmungen des Versailler Vertrages losgesagt hatte, wurden im Unterricht verschwiegen.

Die fächerübergreifende Zielorientierung auf durchsetzungsmächtiges, kriegsorientiertes Verhalten der Schülerinnen, das im Unterricht vorrangig zu vermitteln sei, ist bereits oben vorgestellt worden. Eine „wehrgeistige Erziehung“ nannte dies der Oberpräsident, Abteilung für das höhere Schulwesen, in einer Verfügung von 1940 103 und meinte damit den Verzicht auf Unterrichtsinhalte, die humane und friedliche Ziele vorstellen könnten. Parallel dazu muß das verstärkte Angebot an „Leibeserziehung“ in den Schulen gesehen werden. Es war gekoppelt mit körperlichen Auslesebestimmungen: So „führt ein dauerndes Versagen bei den Leibesübungen, das sich vor allem im Mangel an Willen zu körperlicher Härte und Einsatzbereitschaft äußert, zur Verweisung (von der Schule)“, heißt es in einem Erlaß des Reichsund Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom März 1935. 104 Daraus sind sicher die verstärkten Anstrengungen von körperlich behinderten Schülerinnen zu erklären, die innerhalb des sonstigen Unterrichts sehr hohe Anpassungsleistungen erbringen wollten,damit sie nicht negativ auffielen.

Die Reichsregierung stellte sich indessen auf einen Krieg ein, der „schrecklicher als der Erste Weltkrieg“ 105 in der Luft geführt werden würde, ließ einen Reichsluftschutzbund gründen und wies alle Schulen an, den Gedanken an den Luftschutz in den Lehrplan einzubeziehen, ihm genügend Raum im Unterricht zu geben und auch praktische Vorbereitungen für den Ernstfall zu treffen. 1934 schon wurde ein Lehrer zum „Luftschutzobmann“ bestellt, den Schülerinnen wurden Luftschutzfilme gezeigt, und in Lehrgängen wurden alle Lehrerinnen und Lehrer im Luftschutz unterwiesen. Auch vorläufige Ortsanweisungen für den Schutz der Zivilbevölkerung bei einem möglichen Bombenangriff gab es bereits. Schüleraufsätze über die Feindabwehr mit Wettbewerbscharakter lösten einen sachbezogenen Ehrgeiz unter den Schülerinnen aus. Der Beitritt zum Reichsluftschutzbund wurde für alle Beamten zur „vaterländischen Pflicht“ erklärt. Daß illegale Kriegsvorbereitungen liefen, wurde dadurch deutlich, daß alle Beamten streng geheim vom Reichsund Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung dazu aufgefordert wurden, sich zu „fliegerischen Wiederauffrischungslehrgängen“ zur Verfügung zu halten. 106

„Wißt ihr, warum ihr die englische Sprache erlernt? Damit ihr die Engländer hassen lernt!“ Schulleiter Walter Gerlach

 

Am 1.9.1939 begann Deutschland den Zweiten Weltkrieg ohne Kriegserklärung mit dem Angriff auf Polen. 107 Der Schulleiter berief das Kollegium zu einer außerordentlichen Gesamtberatung, hörte mit allen die Reichtagsrede Hitlers zum Kriegsbeginn über den Rundfunk an und richtete dann angesichts der „geschichtlichen Stunde der Rückkehr Danzigs zum Reich einen eindringlichen Appell an die Mitglieder des Lehrkörpers, in dieser ernsten Zeit die Pflicht gegenüber Volk und Führer restlos zu erfüllen, ganz gleich auf welchem Platz der einzelne aufgestellt werden mag.“ 108 Im Jahresbericht 1939/40 wird nüchtern darüber berichtet, daß sämtliche Osnabrücker Schulen durch Verfügung des Oberbürgermeisters vom 1.9.1939 – 12.9.1939 wegen des Kriegsausbruchs geschlossen worden seien und daß ein Drittel des Kollegiums an verschiedenen Stellen der Stadtverwaltung zu kriegsbedingten Dienstleistungen herangezogen wurde. Mit den Schülerinnen wurden bei Einsatz eines Probealarms Verhaltensweisen für den Ernstfall eines Bombenkrieges, der von seiten Englands erwartet wurde, trainiert. 109 Die „richtige Einstellung auf den Krieg“ wurde auch bei den Schülerinnen mit dem Appell an eine „hohe Verpflichtung“ versucht: Sie alle sollten sich „in dieser großen Zeit“ einreihen in die „Front der Heimat“. 110

Mächtig verstärkt wurde die „wehrgeistige Erziehung“ in den folgenden Wochen des vernichtenden Blitzkrieges gegen Polen: Das „heilige Bekenntnis zum Vaterland“ solle im Unterricht „entzündet und bewahrt“ werden, das sei „tausendmal wichtiger als die Erreichung des Lehrziels“; auf „die Taten unserer herrlichen Wehrmacht und unseres geeinten Volkes“ solle ein „unbändiger Stolz “entwickelt werden, und die notwendige Opferbereitschaft solle durch vorbildhaftes Verhalten der Lehrerinnen und Lehrer für die Schülerinnen deutlich werden, forderte Direktor Gerlach in einer Konferenz. 111 „Es herrschte damals ein dumpfes, gewissermaßen unsolides Glücksgefühl an unserer Schule, da gar so viele Ländereien ins Reich heimkehrten“, berichtete eine ehemalige Schülerin über diese Zeit fünfzig Jahre später. 112 Andererseits wurden nun die Engländer, um die vor Kriegsbeginn so intensiv geworben worden war, die dann aber am 3. September 1939 dem Deutschen Reich als Folge des deutschen Überfalls auf Polen den Krieg erklärt hatten, zum Gegenstand des kollektiven Hasses. Auf Anweisung des Oberpräsidenten der Abteilung für das höhere Schulwesen sollte nun im englischen als auch im Geschichtsunterricht „in aller Deutlichkeit auf die verbrecherische Praxis (hingewiesen werden), in der England in dem uns aufgezwungenen Kriege das wahre Wesen seines Denkens und Handelns offenbart“. 113 Daß dies tatsächlich erfolgte, stellt eine Zeitzeugin auf folgende Weise dar: „Herr Gerlach schritt, (um uns den Erfolg unserer Aufnahmeprüfung mitzuteilen), in seiner Uniform ans Rednerpult, gratulierte uns und stellte in seiner Ansprache folgende Frage: ‚Wißt ihr, warum ihr die englische Sprache erlernt?‘ Die Antwort gab er selbst: ‚Damit ihr die Engländer hassen lernt!‘.

Wir wurden völlig ignorant gehalten, wenn es 32 um völkerrechtliche Fragen oder auch nur um die Kultur anderer Länder ging. Indoktrination prägte den Geschichtsunterricht, und wir hatten Angst, uns zu verplappern, während wir nicht wußten, was der Stolz auf die eigene Rasse, den wir entwickeln sollten, eigentlich bedeutete. Wir waren wie gelähmt“. 114 Trotz aller Einschränkungen, die der Krieg mit sich brachte, trotz aller Opfer, die er forderte, kann die Stimmung unter den Schülerinnen in den ersten drei Kriegsjahren nicht als überwiegend pessimistisch beschrieben werden. Die kriegerischen Überfälle wurden euphorisch als Siege gefeiert, brachten das Glücksgefühl, von dem oben die Rede war, hervor und ließen die Entbehrungen zunächst in den Hintergrund treten. Als normal wird beschrieben, daß die damaligen Kinder und Jugendlichen vergleichsweise lange kindlich waren, Unsinn im Kopf hatten und ihren Spaß haben wollten wie Kinder zu allen Zeiten, daß sie sich in ihrer Klassengemeinschaft wohl gefühlt haben und insgesamt eine schöne Zeit gehabt haben. 115 Das Regime wußte, wie man die Begeisterung und den Idealismus für seine Zwecke einsetzen konnte, und schaffte das unter anderem durch die vielen Aktivitäten, die neu in den Schulalltag traten und diesen veränderten. Immer auch war damit Entlastung vom normalen Unterricht gegeben, die Schüler zu allen Zeiten lieben.

Beispielhaft wird dies an dem hohen Einsatz der Schülerinnen für Sammlungsaktionen, die das Regime, das mit Kriegsausbruch noch massiver als vermutet, in Rohstoffmangel geriet, ab 1939 sehr stark in der Bevölkerung propagierte. Die Altmaterialsammlungen seien als wichtigste Arbeit für das deutsche Volk anzusehen, teilte der Direktor dem Kollegium im April 1940 in einer Gesamtkonferenz mit und beauftragte zwei Lehrer mit der Durchführung der Aktion. 116 Eine ehemalige Schülerin berichtet über die Begeisterung, mit der die SammlungenAltpapiersammlung von Spinnstoffen, Papier, Eisen und anderen Metallen durchgeführt wurden: „Ob wir nun für den Führer, den Endsieg, die Wehrmacht sammelten, weiß ich nicht mehr: Meine Freundin Eva und ich hatten ein interessantes Betätigungsfeld gefunden, und mehrmals in der Woche, sofern uns die Schularbeiten und der Dienst beim JM Zeit ließen, trabten wir mit dem Handwagen los, durchsuchten bereits vorhandene Trümmergrundstücke nach Alteisen und fragten in Haushalten nach Büchern, Papier und Lumpen. Der Höhepunkt unserer Aktivitäten war der, daß wir einmal ein gußeisernes Balkongitter (...) von der Rehmstraße zur Kleinen Domsfreiheit schafften. (...) Es hat uns unheimlichen Spaß gemacht. Natürlich sammelten alle Schülerinnen. Das Ergebnis war überwältigend. (...) In den Pausen vergnügten wir uns damit, in den Papierbergen herumzusuchen und zu lesen.“ Daß der Abtransport des Materials zu einer Sammelstelle von den Schülerinnen während der Unterrichtszeit durchgeführt werden mußte, war so erfreulich wie die Prämie, die man für fleißiges Sammeln bekam, ergänzt die Schülerin. 117

Das Leben in der Schule wurde trotz solcher Unterbrechungen des Unterrichts in den ersten drei Kriegsjahren noch nicht übermäßig eingeschränkt. Es wird am Anfang des Jahres 1940 von Schwierigkeiten in der Kohleversorgung und dadurch begründeter Schließung aller Osnabrücker Schulen für drei Wochen berichtet. Aus dem gleichen Grund wurde einen Monat später Schichtunterricht mit der Ratsoberschule durchgeführt. 118 Auch Raummangel wird beschrieben. Schülerzahlen werden in den Jahresberichten nicht genannt. Zu erschließen ist, daß der vom Regime erzwungene Übergang aller Beamtenkinder von den katholischen Privatschulen zunächst die Zahl erhöhte, dann schließlich die allmähliche Auflösung dieser Schulform überhaupt zur Erhöhung der Anmeldungen in der städtischen Oberschule für Mädchen führte. Abhilfe wurde in der Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr gesehen.

Hauptsächlich aber wurde die Ausquartierung von zunächst fünf Klassen in das Gebäude der Ursulinen an der Kleinen Domsfreiheit, die sich 33zerstörte Schule in erzwungener Auflösung befand, als Entlastung betrachtet. Aufgrund eines Erlasses der Reichsregierung aus dem Jahre 1940 wurde die gänzliche Übernahme der Ursulaschule durch die Städtische Oberschule für Mädchen durchgesetzt. Diese bestand in der Folgezeit aus zwei Schulen, die auch voneinander unabhängige Leitungen bekamen. Mit Professor Kunsemüller als stellvertretendem Leiter und acht seiner Kolleginnen und Kollegen von der Oberschule am Wall, die mit umzogen, richtete sich dort der sprachliche Zweig ein.

Ab 1942 jedoch geriet das Leben in der Schule immer tiefer in einen Ausnahmezustand, der alle Bildungsanstrengungen nur noch als kümmerliche Restbestände einer ehemals hohen Kulturvermittlung erscheinen lassen mußte. Und obwohl Direktor Walter Gerlach und die Geschichtslehrerinnen und -lehrer mit der genauesten Verfolgung der Frontbewegungen und siegreichen Schlachten den Schülerinnen und sich selbst zunächst weiter Hoffnung auf die Erfüllung aller Allmachtswünsche des deutschen Reiches suggerieren wollten, griff mit der Kriegswende im Jahre 1942, der wachsenden Zahl der Kriegsopfer, dem Versorgungsmangel und den zunehmenden Bombenangriffen auf die Stadt extreme Not um sich. Die Schule verlor immer mehr an Bedeutung, der Unterricht konnte kaum noch aufrecht erhalten werden und wurde, wenn er überhaupt stattfand, überlagert von schulfremden Aufgaben für Lehrende und Schülerinnen, er wurde belastet durch außerschulische Probleme und brach 34 schließlich Ende März 1945 im allgemeinen Chaos des Kriegsendes zusammen.

Die Mädchenschule hatte nur wenige Männer im Kollegium, davon waren nicht mehr alle im kriegsfähigen Alter, so daß sich der Ausfall durch Einziehungen rein zahlenmäßig nicht sehr belastend niederschlug. Aber die Bombardierungen Osnabrücks, die im Jahre 1942 mit Großangriffen begannen und zu einer weitgehenden Zerstörung der Stadt führten, hatten massive Auswirkungen auf den Unterricht. Nur noch sehr lückenhaft fand er statt, manchmal mit nur einer Stunde am Tag, manchmal nur zweimal in der Woche. Nach der Bombardierung beider Schulen 1944 war er in Behelfsräume, z. B. in die Gehörlosenschule am Kamp verlegt. Er war begleitet von ständiger Angst vor dem nächsten Alarm, bei dem die Kinder in verschiedene meist überfüllte Bunker oder nach Hause liefen, und führte kaum zu Ergebnissen. Die Schulwege waren, besonders wenn sie weit waren, anstrengend und voller Gefährdungen, konnte doch nie mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß man wirklich am Ziel ankam, vor allem dann nicht, wenn man öffentliche Verkehrsmittel benutzen mußte, da diese häufig von Tieffliegern angegriffen wurden. Die zunehmende Nahrungsmittelknappheit schwächte die Kinder. Eine ehemalige Schülerin beschreibt, wie dankbar sie war, als sie ein verlorenes Butterbrot wiederfand, und daß sie ständig mit einem Henkelmann, der mit gekochtem Essen gefüllt war, von zu Hause losging, weil die Rückfahrt erst am Spätnachmittag angetreten werden konnte. 119

Die Zumutungen, die an ältere Schülerinnen in den letzten Kriegsjahren gestellt wurden, werden meistens übersehen oder unterschätzt. Der Unterricht wurde durch Arbeitseinsätze der Jugendlichen in der Landwirtschaft, in kinderreichen Familien oder Krankenhäusern unterbrochen. Unterricht scheint von der Regierung als überflüssigerKriegsnot, 7.Mai1944 Luxus angesichts der Kriegssituation angesehen worden zu sein. Das Schulende wurde ein Jahr vorverlegt, ein zweiter Abiturtermin im Herbst sollte den Arbeitseinsatz der Mädchen nach dem Abitur noch eher ermöglichen. Denn ein halbjähriger „Arbeitsdienst“ wartete auf sie, sobald sie entlassen waren. Sie sollten den Mangel an arbeitsfähigen Männern, der durch den Kriegsdienst entstanden war, ersetzen. Es fehlten Männer z. B. in bäuerlichen Betrieben, bei der Moortrockenlegung im Emsland, in kinderreichen Jungbauernbetrieben, in Munitionsfabriken oder auch hinter den Fronten.

Der letzte Abiturjahrgang vor Kriegsende wurde ganz ohne Prüfung noch in der Schulzeit losgeschickt. Eine Gespächspartnerin erzählt, sie sei im Herbst 1944, ein halbes Jahr vor dem Abitur in das besetzte Polen bei der damaligen Stadt Schneidemühl eingezogen worden und hätte dort Panzergräben zur Abwehr der Roten Armee ausheben müssen. Mit dem Flüchtlingsstrom sei sie dann nach Westen gezogen, sei in Bitterfeld zur Arbeit im Chemiewerk IG-Farben kaserniert worden, um dann, wiederum auf der Flucht vor der Roten Armee, auf den Weg nach Hamburg zu kommen, wo sie eine Tante suchte, bei der sie Unterschlupf fand. 120 Die Bedeutung des Abiturs schwand dahin angesichts der Sorge um das eigene Leben.

In den Tagebuchaufzeichnungen einer von ihrer Aufgabe begeisterten Studienrätin stellt sich äußerste Bedrückung dar: Am 26.10.1944 notierte sie: „Heute morgen (...) eine Stunde gegeben, (...) um 1 Uhr Alarm, ‚höchste Gefahr‘! Gut zwei Stunden im Keller gesessen. Das ist doch recht aufreibend, besonders weil es alle 35Augenblicke hieß ‚Anflug von...‘. Es blieb Zeit für eine Lateinstunde vom Nachmittagsunterricht. (...) Danach überfällt mich eine große Müdigkeit.“ Am 9.11.1944: „Überdruß erfüllt mich. Was ist das für ein Leben: Mit all seiner Arbeitsfreudigkeit stürzt man sich morgens in den Unterricht. Dann ist nur die Hälfte oder ein Drittel der Klasse da, und sicher gibt es zwischen 10 und 11 Uhr Alarm. (...) Man hat keine Freude an der geschafften Arbeit, weil der Tag so leer ist – innerlich. Keine große Kraftanspannung, nur das Nervenaufreibende des Hinund herlaufens. Trotz allen Unterrichtens kein Ergebnis, wegen der vielen Störungen, bei einzelnen oder für alle. Wann hört das einmal auf?“ Am 15.1.1945: „Wie dankbar bin ich für die alarmfreien Morgen, deren wir jetzt mehrere hatten. (...) Heute konnte ich fünf volle Stunden geben, in denen die Kinder bei der Sache waren – das war schön.“ 121 Das Kriegsende wurde von allen erwartet, allerdings auf unterschiedliche Weise. Einige hofften auf die von der Reichsregierung versprochene Wunderwaffe, die alle Feinde trotz der verzweifelten Situation im Reich noch vertreiben würde. Sie wendeten keine kritische Idee an die Ursachen der Katastrophe und hielten fest an ihrem Idol, dem Führer.

Viele lebten resigniert und konzentriert auf die alltäglichen Sorgen vor sich hin, fühlten sich ohnmächtig, brachten keine Kraft mehr für weitergehende Überlegungen auf und dachten mehr oder weniger unbewußt in den alten Vorstellungen weiter. Nur wenige hatten schon als Schülerinnen kritische Überlegungen und Wünsche auf eine ganz andere Lebenssituation, z. B. dieses damals 15jährige Mädchen: „Ich hatte ein unglaubliches Glücksgefühl im Mai 1945, das Gefühl der Befreiung: Nur durfte ich es nicht zeigen, meine Umgebung, so empfand ich es, trauerte in der Niederlage.“ 122

8. Kritische, mutige Menschen

Eine ehemalige Schülerin nannte sie „mutige Outsider unter der Schar unserer angepaßten Lehrer“. 123 Sie nannte „unseren Musiklehrer Dr. Steger, der einmal in der Musikstunde ein Buch von Thomas Mann aus der Tasche gezogen hat, um uns daraus vorzulesen. Was er damit riskierte, läßt sich heute kaum nachempfinden.

Daß er es riskierte, sichert ihm einen Platz in meiner dankbaren Erinnerung.“ Er sei wie ein „Lichtstrahl“gewesen, der „freie Luft in die immer völkischer und dumpfer werdende Atmosphäre unserer Schule im Dritten Reich brachte.“ 124 Dieser Musiklehrer hatte es auch riskiert, zu einer Weihnachtsfeier einen sechsstimmigen Chorsatz von Orlando di Lasso mit Schülerinnen einzuüben: Das „Adoramus te Christe“ sollte gesungen werden. „Er wurde in letzter Minute abgeblasen. Zu christlich! Statt dessen eine Rede über den Wechsel der Jahreszeiten, (...) über das Julfeuer, das im Winter umtanzt wird.“ Im selben Text wird an die widerständige Literaturauswahl einer Englischlehrerin gedacht, an „Ilse Kremser, die uns mit Feuer die englische Literatur (...) nahebrachte. Unvergeßlich ist mir die Lektüre von Shakespeares ‚Julius Cäsar‘, wir lernten die Rede des Antonius auswendig und sollten genau den Tonfall nachempfinden“, damit der Sinn des Gesprochenen richtig verstanden werden konnte, handelt es sich doch um eine rhetorische Glanzleistung zum Zweck politischer Irreführung. 125

.. ein „Lichtstrahl“, der „freie Luft in die immer völkischer und dumpfer werdende Atmosphäre unserer Schule im Dritten Reich brachte“ 

 

Eine Gesprächspartnerin erinnert an einen Lehrer, dessen Namen sie nicht mehr weiß, dessen widerständiges Verhalten sie aber zur Nachgestaltung der Person in einem Roman veranlaßt hat. Er sei ein sehr junger Geschichtslehrer gewesen, wegen eines Hüftleidens nicht bei der Wehrmacht, etwa dreißigjährig, der nur sehr kurze Zeit in ihrer Klasse unterrichtet habe, und zwar sehr kritisch und feindselig gegenüber Hitler. Innerhalb des Romans heißt es in dichterischer Freiheit: „Susa liebte ihren Lehrer Rettich, der Geschichte gab, daß einem Hören und Sehen verging, der Könige als Bauernfänger und Mordbrenner entlarvte und Schlachtfelder, auf denen ruhmreiche Siege laut Geschichtsbuch erfochten wurden, Leichenhalden nannte.“ An anderer Stelle wird Hitler als „das Männeken“, das über die Grenzen „latscht“ und alles „plattwalzt“ und „tottrampelt“, bezeichnet.

Der Erzählteil endet mit der Denunziation und Verfolgung dieses Lehrers durch einen „pflichtbewußten“ Ortsgruppenleiter. 126 Sicher hat die Autorin nachträglich Hoffnungen in eine solche Figur verlagert. Denn solcherart Widerstand von vielen hätte den Deutschen das Dritte Reich erspart, zumal man auch von den Ängsten und der Feigheit der damals politisch Verantwortlichen wußte; deren Vorsicht und Feigheit traten immer dann auf, wenn massiv, aber vor allem gemeinsam Widerstand innerhalb des Volkes geleistet wurde.

Wenn hier von Widerstand im Denken und ansatzweise im Handeln berichtet wird, so geht es um partiellen Widerstand. Es ist nicht zu erwarten, daß diese Lehrerinnen und Lehrer in bezug auf alle Bereiche der oben vorgestellten Ideologie Gegner des Regimes waren; dies waren sicher nur sehr wenige. Aber daß einige andere sich davon ein Stück weit entfernten und auch den Schülerinnen Signale der Distanz vermitteln wollten, wird aus den genannten Beispielen deutlich Vielfach wird der Name der Studienrätin Gertrud Schlöbcke in solchen Zusammenhängen genannt. Nach anfänglicher Begeisterung für das neue Regime muß sie sich durch viele einzelne negative Erfahrungen mit der Politik des Regimes von der NS-Ideologie abgewandt haben. Die Schülerinnen konnten beobachten, wie ihre Geschichtslehrerin sich bemühte, von dem propagandistischen Unterricht wegzukommen oder wie sie z. B. in Nebenbemerkungen über „einen Herrn Hitler“ sprach, der „seine Politik einfach aus der Hand werfe“, ohne genügend Kenntnisse zu besitzen. Sie hatte sich um die Stelle der Oberin in der 1935 eröffneten Frauenschule beworben, leitete diesen Teil der Schule aber nur ein knappes Jahr, weil sie durch eine Schülerin denunziert worden war und deshalb zum Rücktritt genötigt wurde.

Nur durch einen glücklichen Zufall geriet der Fall damals nicht in Vernehmungen durch die Schulbehörde und zur generellen Entlassung. Kraftquelle muß ihre Religiösität gewesen sein: „Sie war eine gläubige Frau, die ihr Christentum lebte, außerdem mutig und engagiert war“, berichtet eine ihrer Schülerinnen und fügt hinzu, daß es unvergeßlich sei, wie die Lehrerin ihre Schülerinnen in dem schon 1936 nur noch freiwilligen Religionsunterricht ganz dicht um sich herum setzte, damit sie die Bibel interpretieren konnte, so wie sie es für richtig hielt, und nicht anweisungsgemäß. 127 Ähnliches wird auch von dem Studienrat Käsbach, der als Mathematikund Physiklehrer in der Schule arbeitete, erzählt. Alle Interviewpartnerinnen lasen aus der Tatsache, daß er den vorgeschriebenen Hitlergruß nur widerwillig, undeutlich mit einer trudelnden Kreisbewegung in Hüfthöhe ausführte, ab, daß er dadurch seine Distanz zeigen wollte. Was er wirklich dachte, weiß keine zu berichten, die Bewegung wird aber kommentiert mit dem Hinweis, er sei ein überzeugter Katholik gewesen, keinesfalls ein angepaßter „Nazilehrer“. Er wie die schon oben genannten wurden als Menschen verstanden, die Signale für die Hoffnung gaben, daß es nicht nur den mutlosen Gehorsam gegenüber dem Unrechtsstaat gab, sondern auch Freiheit möglich sein könnte.

In der von den Ursulinen übernommenen Schule, wo ein Klima der Toleranz geherrscht haben muß, eine Situation ohne gegenseitige Denunziation, wird von einer Gruppe sehr mutiger Lehrerinnen berichtet, die jede auf ihre Weise dem Druck entgegenwirkten: Frau Bödige, Frau Schürmann und Frau Determann. Leider sind keine Einzelerlebnisse aus deren Unterricht berichtet worden, so daß es hier bei der Nennung der Namen bleiben muß. Sehr zu bedauern wäre es aber, wenn ich aus dieser Gruppe der Lehrer und Lehrerinnen einige aus Unwissenheit überhaupt nicht genannt hätte.

Besonders dankbar sind die ehemaligen Schülerinnen dieser Schule dafür, daß auch ihr Direktor sich nicht angepaßt zeigte, obwohl er Parteigenosse war: Dr. Kiehn. Das wurde deutlich an seiner Lektüreauswahl im Fach Deutsch. Anstatt den vorgeschriebenen Kanon abzuarbeiten, zog er sich darauf zurück, z. B. ein ganzes Jahr über Schillers philosophische Schriften und Gedichte zu lehren, eine Textauswahl, die den Schülerinnen ungeheuer beschwerlich vorkam, schrieb Schiller doch über ästhetische und ethische Fragen in der Auseinandersetzung mit dem Philosophen Kant. Die Schülerinnen hätten sich zwar gewundert und auch sehr gequält mit den schwierigen Texten, den Sinn dieser Auswahl aber erst später begriffen, berichtet eine seiner Schülerinnen. 128 Dr. Kiehn war es auch, der deutlich Stellung nahm, wenn ihm die Verbrechen des Regimes vor Augen traten. Dazu wird folgendes von zwei ehemaligen Schülerinnen berichtet: „Einen Tag im Jahre 1943 können wir nie vergessen. Als wir damals frühzeitig in die Schule kamen, fanden wir unsere Klassenräume angefüllt mit gebrauchten Möbeln, Teppichen, Kleidungsstücken, Hausund Küchengeräten.

Die Fenster teilweise verstellt – ein dunkles Durcheinander! Wir öffneten Kochtöpfe, in denen Speisen waren. Da hatten irgendwo Frauen Mahlzeiten bereitet, die von den Familien nie gegessen werden konnten! Wir öffneten Schreibtischschubladen mit Briefen, Papieren, Fotos! Es war uns klar, daß dies alles Menschen, die verschleppt worden waren, gehörte. Im Elternhaus hatten wir von den Judenverfolgungen im besetzten Ausland gehört, Jahre zuvor hatten wir als Elfjährige 38 die Osnabrücker Synagoge brennen sehen, wir hatten die Plünderung der jüdischen Geschäfte erlebt. Das, was hier vor uns lag, war jüdisches Eigentum. (...) Betroffen und entsetzt gingen wir zurück zum Eingang des Schulgebäudes, wo unser Direktor Dr. Kiehn stand, um die kurz vor Unterrichtsbeginn eintreffenden Schülerinnen zurückzuschicken. Herr Dr. Kiehn sagte zu uns mit tonloser Stimme: ‚Man muß sich als Deutscher schämen (...)‘.“ 129 Auch von einer Schülerin ist bekannt geworden, daß sie damals offen und kämpferisch ihre Meinung sagte. Es wird berichtet: „In unserer Klasse war Rosemarie Wiesenthal, eine Jüdin, deren Vater im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und ausgezeichnet worden war.

Eines Tages, als es im Unterricht etwas unruhig zuging, schrie unsere Lehrerin dieses Mädchen mit den Worten ‚du unverschämtes Judenweib‘ an. Ich sprang auf und forderte die Lehrerin auf, dies sofort zurückzunehmen. Alle waren sehr aufgebracht und unterstützen mich, denn wir hielten wie Pech und Schwefel zusammen, die Lehrerin war zwar ganz bleich, aber sie hat nichts mehr gesagt und hat mich auch nicht dem Direktor gemeldet, was sonst gerade von dieser Frau erwartet werden mußte und generell üblich war. Aber Rosemarie Wiesenthal ist nicht wiedergekommen“. 130 Sicher gibt es einige solcher oder ähnlicher Vorgänge, die mir aber nicht bekannt geworden sind. Ich hätte sie gern alle dokumentiert. Sie geraten, wenn man sie in der Masse von angepaßten, absurden, aber auch unmenschlichen Handlungen auffindet, in ein besonders helles Licht, weil sie darauf hinweisen, daß die Hoffnung auf humanes Verhalten nicht völlig utopisch war.

Schlußbemerkung

Als totalitäres System – man muß es sich aber nicht konsequent und systematisch handelnd vorstellen, sondern eher chaotisch und dadurch besonders unberechenbar gefährlich 131 hat der Nationalsozialismus alle Bereiche des Lebens, ganz besonders aber Erziehung und Schule berührt. Und er hat alle Menschen, die im Machtbereich der Diktatur lebten, in seinen Einfluß gezogen, hier: Eltern, Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen. Die Vorstellung, daß es gleichsam öffentliche Räume der Freiheit, etwa eine „Insel der Seligen“, wie die übernommene Ursulaschule genannt wurde, gegeben haben könnte, ist verharmlosend. Sicher war der Grad der Betroffenheit vom Terror des Regimes recht unterschiedlich. Aber schon die Vorstellung, man befinde sich in einer Ausnahmesituation, zeigt, daß die Angst überall das Bewußtsein besetzt hielt.

Andererseits wäre es falsch, die Haltung der damals lebenden Menschen nur als hilflose Reaktion auf die Diktatur zu deuten, so als habe der Terror das systemkonforme Verhalten der Mehrzahl in der Bevölkerung hervorgebracht. Eine Diktatur existiert nicht ohne Zustimmung und Gefolgschaft. Es gab gewollte Einbindung und schuldhafte Verstrickung in das verbrecherische System. Gerade die Alltagsgeschichte ist besonders geeignet, dies zu erkennen, macht sie doch an vielen kleinen, fast unmerkbaren Handlungen deutlich, auf welche Weise die Massenbasis für das Regime zustande kam und wie weit so viele Menschen dem „Führer“ zu folgen bereit waren.

Die Erinnerungen an so extreme Belastungen sind für die meisten Menschen schmerzhaft und lassen die Frage nach dem Sinn des Erinnerns aufkommen. Einige Interviewpartnerinnen berichten, daß ihnen erst durch die eindringlichen Fragen ihrer eigenen Kinder die Bedeutung des Erinnerns deutlich und wichtig geworden sei. In den Gesprächen mit ihnen hätten sie sich bewußt gemacht, daß nur durch die Klarheit der Erinnerung das humane Lebenskonzept der bürgerlichen Gesellschaft erhalten bleibt und keine Reste faschistischen Denkens dessen Durchsetzung behindern.

Über Mißbrauch wurde immer wieder nachgedacht: „Die wußten genau, wie sie uns kriegen konnten“, sagt eine ehemalige Schülerin und erzählt, wie wohl sie sich bei den Jungmädeln gefühlt hat und daß ihre Freude am Singen, Spielen, Wandern und auch an der Uniform für politische Zwecke mißbraucht wurde, ohne daß sie es damals durchschauen konnte. 132 Schmerzlicher noch ist der damit zusammenhängende Gedanke, daß man seine besten Kräfte so lange in den Dienst einer nichtswürdigen Sache gestellt hat und dadurch das Regime, ohne dies zu erkennen, gefördert hat.

Die heutigen Schüler und Schülerinnen sprechen mit Dankbarkeit darüber, daß ihnen als später Lebenden ähnlich schlimme Herausforderungen erspart geblieben sind, da sie alle nicht wissen, wie sie sich unter den Bedingungen von Terror und Gewalt verhalten würden.

 

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